Förderschwerpunkt Situationsverständnis

 

1.       Begriff

Wir konnten in der Literatur den Begriff „Situationsverständnis“ nicht finden. Deswegen haben wir zunächst versucht die Einzelbegriffe zu definieren.

 

Situation: [lat.-franz.] allg. Sachlage, Stellung, Zustand

(Meyers Großes Taschenlexikon (MGTL) 1990)

 

Verstehen:

1.      das Erfassen von Zusammenhängen (zw. Dingen, Menschen, Gedanken)

2.      das nachvollziehende Begreifen seel. Zustände (Gefühle, Motivationen) anderer Menschen

3.      das Erfassen einer Bedeutung bes. eines Symbol- oder Regelsystems, z.B. einer Sprache oder eines Spiels

(nach MGTL 1990)

 

Wir haben uns dann weiter an dem Begriff des „Erfassens“ orientiert, da das Erfassen offenbar Grundvoraussetzung des Verstehens ist bzw. es ausmacht.

Für Miessler & Bauer (1978) ist das Erfassen eine Grundoperation des Denkens (vgl. ebd., 67), welche aus folgendem Grund elementar ist: „Um sich in der Welt zurechtzufinden, ist es notwendig, die umgebenden Objekte richtig und möglichst vollständig zu erfassen. Dadurch werden sie dem Kind nicht nur vertraut, sondern das Kind kennt dann auch ihre Struktur, ihre Eigenschaften und ihre Umgangsqualitäten. Es wird dadurch in die Lage versetzt, sich der Dinge zu bemächtigen und sich nutzbar zu machen“ (ebd.).

Der Begriff „Objekte“ wird hier in einem weiter gefassten Sinne verstanden, und zwar auch als Situationen, Handlungen und Ereignisse (vgl. ebd., 73).

Das Erfassen eines Objektes bzw. einer Situation umfasst verschiedene Teilkompetenzen. Dies sind nach Miessler & Bauer (1978) (hier nur auf das Erfassen von Situationen bezogen):

-          das Gliedern einer Situation in Teile

-          das Erfassen der Beziehung der Teile zum Ganzen

-          das Bestimmen der Eigenschaften einer Situation

-          das Erfassen der Beziehung zwischen Eigenschaften und Situation

(vgl. ebd., 68).

Daraus sind wir zu folgender Arbeitsdefinition von Situationsverständnis gekommen:

Situationen verstehen bedeutet, das Erfassen der Teile der Situation mit ihren Eigenschaften (z.B. Dinge, Menschen, Gedanken; Gefühle und Motivationen der Menschen; Symbol- und Regelsysteme) und ihrer Beziehungen zueinander und zum Ganzen.

 

2.       Warum der Förderschwerpunkt Situationsverständnis?

Das Erfassen von Situationen, also das Situationsverständnis ist ein Teil des erfassenden Denkens und im Hinblick auf die weitere Entwicklung des kognitiven Bereichs ein sinnvoller und wichtiger Förderschwerpunkt: „Das Ausgliedern von Teilen und Eigenschaften und das Erfassen ihrer Beziehungen zum Ganzen bzw. zum Objekt [zur Situation, Anm. d. A.] sind nach Lompscher ‚Grundoperationen, die letzlich in allen anderen Operationen wiederkehren, allerdings auf ganz unterschiedlichem Niveau‘“ (Miessler & Bauer 1978, 68).

Diese Grundoperationen sind „Vorbedingungen für weitere Denkprozesse“ (ebd.).

Das Ausgliedern von Teilen ist Vorbedingung:

-          für das Vergleichen (Feststellen von Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Identitäten) sowie

-          für das Gruppieren, Zuordnen und Verallgemeinern und damit auch

-          für das Abstrahieren.

Das genaue Erfassen einer Situation schließlich ist die Voraussetzung für die Entwicklung exakter Vorstellungen (vgl. ebd., 68).

 

Im folgenden werden die genannten Teilkompetenzen erläutert, sowie jeweils Beobachtungskriterien und Fördermöglichkeiten genannt.

 

3.       Teilkompetenzen

3.1   Gliedern einer Situation in ihre Teile

3.1.1       Erläuterung:

Das Gliedern einer Situation in ihre Teile erfordert analytisches Denken, d.h. eine differenzierte Wahrnehmung der Teile und eine Abgrenzung voneinander. Die Teile müssen also wahrgenommen und erkannt werden.

Als ‚Wahrnehmen‘ bezeichnen Miessler & Bauer angelehnt an Fröhlich (1977) die „sinngebende Verarbeitung von Reizen“ (Miessler & Bauer 1978, 50).

‚Erkennen‘ unterscheidet sich von der reinen Wahrnehmung durch den höheren Bewusstheitsgrad, die differenziertere Wahrnehmungsleistung und eine stärkere Aktivierung des Gedächtnisses (vgl. ebd., 52). Das bedeutet, ein gewisses Maß an Merkfähigkeit und Differenzierungsfähigkeit sind Vorbedingungen für das Erkennen und damit auch für das Gliedern einer Situation in ihre Teile.

Gliedern heißt:

-          das Zerlegen eines Ganzen in seine Teile, sowie

-          das Zusammensetzen von Teilen zu einem Ganzen.

Es handelt sich hierbei um ein additives Zergliedern und Zusammensetzen, wobei es noch nicht um die Beziehung der Teile zum Ganzen geht.

 

3.1.2       Beobachtungskriterien

Woran erkenne ich, inwieweit ein Schüler/eine Schülerin eine Situation in ihre Teile gliedern kann?

Mögliche Anhaltspunkte:

Kann der Schüler/die Schülerin in einer konkreten Situation die einzelnen vorhandenen Teile wahrnehmen und erkennen (z.B. Tischdecken: Teller, Tasse, Besteck / Einkaufen gehen: Geld, Einkaufszettel, Tasche, Jacke / es regnet: graue Wolken, Regen tropft auf den Boden, die Menschen tragen Regenschirme.../ die Abfolge der Schritte der Situation Körperpflege)?

Kann der Schüler/die Schülerin bei einer Situationsbeschreibung in einem Bild die einzelnen Teile wahrnehmen und erkennen (benennen der Teile oder nachbauen der Situation)?

Kann der Schüler/die Schülerin aus der Vorstellung heraus die notwendigen Teile einer Situation nennen?

 

3.1.3       Lern- und Fördermöglichkeiten

Es werden mit den SchülerInnen einfache Situationen geschaffen und handelnd oder verbal wieder aufgelöst: (z.B. Kleingruppen mit Kindern bilden und wieder auflösen, Tisch decken und dabei die Teile benennen).

Es werden gemeinsam mit den SchülerInnen Situationen auf Bildern zergliedert und analysiert (z.B. Fotos, Bilderbuchszenen...)

Einfache Situationen werden aus der Vorstellung abgerufen und auch in der Vorstellung analysiert (z.B.: Wie decke ich den Tisch? Wie wasche ich mir die Haare? – Abfolge, notwendige Teile).

 

 

3.2   Das Erfassen der Beziehungen der Teile zum Ganzen

 

3.2.1       Erläuterung

Nach der systematischen Bestimmung und Ausgliederung der Teile einer Situation, müssen diese in Beziehung zueinander gesetzt werden sowie in Beziehung zur Gesamtsituation (vgl. ebd. 72).

 

3.2.2       Beobachtungskriterien

Woran erkennt man, inwieweit der Schüler/ die Schülerin die Beziehungen der Teile untereinander und zum Ganzen erfassen kann?

 

a) Beziehung der Teile untereinander:

Beispiel Tischdecken:

Dem Schüler/ der Schülerin ist es möglich das Geschirr in richtiger räumlicher Beziehung zueinander zu stellen (z.B. Tasse nicht auf den Teller).

Der Schüler/ die Schülerin kann erfassen, wo das Geschirr zu sich selbst stehen muß (Raum- Lage- Beziehung).

Beispiel: Einkaufen vorbereiten

Der Schüler/ die Schülerin weiß, dass das Geld und der Einkaufszettel in die Tasche gehören, die Tasche in die Hand genommen werden muß und die Jacke angezogen wird.

 

b) Beziehung der Teile zur Gesamtsituation:

Beispiel Tischdecken:

Der Schüler/ die Schülerin kann erfassen, dass der Tisch gedeckt ist, wenn das ganze Geschirr an der richtigen Stelle steht.

Beispiel: Einkaufen vorbereiten

Der Schüler/ die Schülerin weiß, dass es zum Einkaufen geht, wenn alle Teile da sind.

 

Beispiel: Betrachten von Situationen auf Bildern

Der Schüler/ die Schülerin kann sich mit der Bildfigur identifizieren und so erfassen, was diese sieht, wenn sie in eine bestimmte Richtung schaut oder, wenn sie einen bestimmten Weg geht (vgl. ebd.).

 

 

3.2.3       Lern- und Fördermöglichkeiten

 

-          Umgang mit räumlichen Beziehungen (über, unter, neben, usw.) und Raum- Lage- Beziehungen auf enaktiver und ikonischer Ebene üben, z.B. Tasse muß immer neben dem Teller stehen (nicht auf dem Teller), Messer/ Gabel daneben liegen.

-          Bilder systematisch analysieren (links, rechts, vorne, hinten, usw.)

-          Überprüfen, ob eine Situation vollständig ist (z.B. ist der Tisch komplett gedeckt?). Dies kann zu Beginn mit Hilfe des Lehrers/ der Lehrerin geschehen, später sollte es selbständig vom Schüler/ von der Schülerin bewältigt werden.

 

3.3   Bestimmen von Eigenschaften einer Situation

3.3.1       Erläuterung

Hier ist nicht nur das Erkennen sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften von Bedeutung, sondern auch das Erfassen funktioneller Eigenschaften einer Situation.

Konkret wird darunter folgendes verstanden:

-          die persönliche Bedeutung der Situation: „macht Spaß- Angst“, „ist traurig- lustig“, usw.,

-          Auswirkungen der Situation: „macht naß“, macht warm“, „ist hell“, „macht kalt“, usw.,

-          Folgenantizipation: „wird weggehen- kommen“, „wird schimpfen“, „wird lachen“, usw..

 

3.3.2       Beobachtungskriterien

Woran erkennt man, inwieweit ein Schüler/ eine Schülerin die Eigenschaften einer Situation bestimmen kann?

 

- persönliche Bedeutung:

Der Schüler/ die Schülerin kann deutlich machen, ob ihm/ ihr eine Situation Spaß bereitet oder nicht, z.B. Tischdecken oder Einkaufen fahren.

 

- Auswirkungen/ Folgenantizipation:

Der Schüler/ die Schülerin kann erfassen, dass er/ sie naß wird, wenn es regnet und mit einem Schirm trocken bleibt.

Der Schüler/ die Schülerin kann erfassen, dass erst gefrühstückt wird, wenn der Tisch gedeckt ist.

 

 

3.3.3       Lern– und Fördermöglichkeiten

-          Schüler/ Schülerin auffordern Situationen differenziert zu bewerten

-          Folgen von Situationen erleben lassen, z.B.:

Situation: draußen regnet es ® Schüler/ Schülerin wird naß

Situation: Frühstückstisch decken ® erst wenn dies beendet ist wird gefrühstückt

Die Folgen müssen anfangs bewußt erlebt werden, evtl. vom Schüler/ von der Schülerin verbalisieren lassen oder von nichtsprechenden SchülerInnen mit Hilfe von Bildern verdeutlichen. Später sollten die Folgen aus der Vorstellung abgerufen werden, z.B. mit Bildgeschichten. Auszugehen ist dabei von Situationen, in denen die Schüler(innen) selbst stehen (vgl. ebd. 73).

 

 

3.4   Erfassen der Beziehungen zwischen Eigenschaft und Situation

 

3.4.1       Erläuterung

Das adäquate Verhalten in einer Situation ist abhängig vom Erfassen der Beziehungen zwischen Eigenschaft und Situation. Der Zusammenhang muß deutlich gemacht werden, das bedeutet die Hervorhebung des Kausal- Zusammenhang, z.B. warum verhält sich jemand in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise.

 

3.4.2       Beobachtungskriterien

Woran erkennt man, inwieweit ein Schüler/ eine Schülerin die Beziehung zwischen Eigenschaft und Situation erkannt hat?

 

Der Schüler/ die Schülerin hat den Kausalzusammenhang erfaßt und kann danach handeln, d. h.

-          er/ sie muß nicht nur erfassen, dass Regen naß macht, sondern dass er/ sie entsprechende Kleidung wählen muß.

-          Der Schüler/ die Schülerin muss erfassen, dass der Tisch gedeckt werden muss, um essen zu können.

-          Der Schüler/ die Schülerin weiß, dass er/ sie sich bei einem Krankenbesuch ruhig verhalten muß, da Kranke empfindlich gegen Lärm sind und evtl. Schmerzen haben (vgl. ebd. 75).

 

3.4.3       Lern- und Fördermöglichkeiten

Den Schüler/ die Schülerin zur Objektivierung einer Situation anregen, z.B. nicht nur er/ sie wird naß, sondern alle anderen auch. Sowie zur Verallgemeinerung und Übertragbarkeit, z.B. wird immer bei Regen eine Regenjacke angezogen, nicht nur diese kann schützen, sondern auch andere Regenjacken oder Schirme.

 

 

 

Literatur:

-          Meyers Großes Taschenlexikon (1990). BI- Taschenbuch- Verlag. Mannheim

-          Miessler, Maria; Bauer Ingrid (1978). Wir lernen denken. Vogel-Verlag. Würzburg