Birgit Pullich: Basale Stimulation im Alltag

 

 

Ein Bericht über die Anwendung der Basalen Stimulation bei einem Kind mit spastischer Lähmung

 

 

 

 

Jemanden lieben heißt für ihn hoffen

 

Vorwort

Dies ist kein wissenschaftlicher Bericht!

Als unser zweites Kind in der 33. Woche zur Welt kam und lange Intensivpatient war, bangten wir um sein Leben. Doch Martin schaffte den schwierigen Start und wir begannen mit Krankengymnastik nach Bobath, um seine Entwicklung zu fördern.

Im Alter von 14 Monaten kam dann die niederschmetternde Diagnose, daß seine Beine spastisch gelähmt sind und er vielleicht nie laufen lernen wird.

"Da hilft nur turnen, turnen, turnen!"

In dieser Zeit wurde ich auf die basale Stimulation aufmerksam und las verschiedene Bücher. Etwas unsicher machte ich mich daran, das Gelesene umzusetzen. Mit 2 Jahren und 2 Monaten wagte Martin die ersten freien Schritte. Inzwischen ist er 3 Jahre alt und läuft schon recht schnell, wenn auch noch sehr ungelenk. Er hat es geschafft und ich bin von der Wichtigkeit der basalen Stimulation so überzeugt, daß ich betroffenen Eltern Mut machen möchte, diesen Weg einzuschlagen.

Als es noch unklar war, ob Martin jemals laufen lernen wird, plagte mich oft die Angst, daß wir nicht die richtige Therapie für ihn finden. Allein die Vorstellung, daß Martin mit 8 Jahren im Rollstuhl sitzt und irgend jemand zu mir sagt: "Warum haben Sie denn damals nicht das und das gemacht? Jetzt ist es leider zu spät!" war mein größter Schrecken. Sicher ist es mir deshalb heute so wichtig unsere Erfahrungen niederzuschreiben, damit andere Betroffene wenigstens die Möglichkeit der Entscheidung haben. Und wenn es mir gelungen ist, das Interesse für die basale Stimulation zu wecken, findet man sicher Unterstützung beim Kinderarzt und Physiotherapeuten. Schließlich gibt es für jede Krankheit einen Entwicklungsspielraum und ich bin überzeugt, daß die basale Stimulation eine gute Hilfe ist, diesen Spielraum voll auszuschöpfen.

Sinnvoll anwenden kann man die basale Stimulation bei allen Kindern ( und Erwachsenen ), die durch ihre Behinderung Arme und / oder Beine nicht oder nur gering bewegen. Durch das Fehlen der Bewegung können die Kinder überhaupt kein Gefühl für das betroffene Körperteil entwickeln und letztendlich immer weniger damit anfangen. Vielleicht ist das mit einem eingegipsten Arm vergleichbar, der sich nach wochenlanger Ruhestellung merkwürdig anfühlt, so daß man gar nicht so recht damit arbeiten kann - aber durch vorsichtiges Ausprobieren und Bewegen bekommt man das "alte" Körpergefühl wieder zurück. Die basale Stimulation bietet Möglichkeiten, das "vernachlässigte" Körperteil zu spüren, zu entdecken ­ und vielleicht dann auch selbst mehr zu bewegen.

 



Was ist Basale Stimulation?

 

Basale Stimulation ist ein Versuch, Menschen mit Wahrnehmungs- und Bewegungsstörungen Angebote für deren Entwicklung zu machen. 'Basal' bedeutet, daß man voraussetzungslose, elementare Angebote macht, die vielleicht sogar an Erfahrungen im Mutterleib anknüpfen. 'Stimulation' bedeutet eine Anregung als Herausforderung für die Entwicklung.

Entwickelt wurde die ,Basale Stimulation' von Professor Andreas Fröhlich, um behinderten Kindern in der Entwicklung zu helfen.

Der Begriff ,Basale Stimulation' ist durch Herrn Professor Andreas Fröhlich rechtlich als eingetragenes Warenzeichen geschützt worden. In diesem Text habe ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit dieses Warenzeichen weggelassen, weise aber darauf hin, daß der rechtliche Schutz in jedem Fall besteht.

Die basale Stimulation ist keine Technik, die man unverändert immer anwenden kann, sondern es ist ein Anbieten von individuellen Wahrnehmungserfahrungen, die gezielt ausgewählt werden ­ letztendlich vom Kind! Dem Kind werden also Informationen über seinen Körper angeboten, damit es ein intaktes und vollständiges Körpergefühl aufbauen kann. Das Kind soll sich selbst erleben und die Grenzen seines Körpers spüren.

Wichtig ist die enge Beziehung zwischen dem Stimulierendem und dem Kind, um zum Beispiel eine Ablehnung von bestimmten Reizen wahrzunehmen. Es ist notwendig, die ausgewählten Reize über einen längeren Zeitraum beizubehalten, damit sich das Kind an diesen Reiz erinnern kann und ihn verinnerlichen kann. Deshalb kann es von Vorteil sein, wenn nur ein Elternteil die Stimulation übernimmt, damit sich das Kind nur auf ein Paar Hände einstellen muß. Wenn die Eltern die Stimulation beide übernehmen wollen, müssen sie sich darüber klar sein, daß das zweite Paar Hände schon wieder eine neue Stimulation darstellt. Vielleicht kann man das Programm von Anfang an kleiner halten, um das Kind nicht zu verwirren.

Um die Wirkung der basalen Stimulation zu verstehen, muß man sich vorstellen, daß die Nervenbahnen bei allen Neugeborenen nur im Kern angelegt sind und sich noch entfalten müssen. Dieses geschieht besonders durch Reize von außen. Bildlich gesprochen: Je öfter eine Nervenbahn benutzt wird, desto mehr verzweigt sie sich. Je verzweigter die Nervenbahnen sind, desto besser funktioniert die Wahrnehmung. Wenn also z.B. die Beine nur selten bewegt werden, erhalten die Nervenbahnen auch zu wenig Impulse, sich weiter zu verzweigen. So versucht die Basale Stimulation diese Anreize zu bieten.

bulletLiteratur:
Christel Bienstein / Andreas Fröhlich: Basale Stimulation in der Pflege, Verlag selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf
Nydahl, Bartoszek: Basale Stimulation -Neue Wege in der Intensivpflege. Ullstein Mosby

 

 

Die Vorbereitung

 

Ich habe mir erst mal 3 Tage Zeit genommen, um Material zu sammeln, alles auszuprobieren und zu beobachten, was Martin gefällt und was er einfach ablehnt. Als Material kann man einfach alles verwenden, es selbst an der Wange und an der Arminnenseite testen und wenn es einem gefällt, am Kind ausprobieren. Das Ziel soll ja ein einfacher, klarer Reiz sein. Man merkt sehr schnell, wie unterschiedlich fest man über die Haut streichen muß, damit es z.B. nicht kitzelt. Beispiele: eine weiche Nagelbürste, ein dicker Puderquast, ein Wattebausch, weiche Seide, ein harter Frotteewaschlappen, weiche Baumwolle, gestrickte Socken, verschiedene Kuscheltiere aus Fell, ein Igelball oder ein Massageroller. Mir gefielen Socken besonders gut, weil man sie über die Hand stülpen kann und sie so leicht zu handhaben sind. Außerdem bildet man so automatisch eine Fläche, die das Kind besser spüren kann als wenn man die Finger spreizt.Es war mir wichtig, feste Tageszeiten festzulegen, damit ich das Programm auch wirklich über lange Zeit beibehalte und nicht alles im täglichen Einerlei untergeht. So tauchten dann doch einige Fragen auf: Welche Zeit ist günstig, damit sie sich nicht mit einem wöchentlichen Termin überschneidet ( z.B. Krankengymnastik ) und auch noch am Wochenende durchführbar bleibt, wenn man Besuche machen möchte etc.? Wann muß man besonders damit rechnen, daß das dreijährige Kind angelaufen kommt und seine Rechte fordert ­ und wann hat man selbst seinen Tagestiefpunkt und einfach keine Geduld? Wann ist das Kind interessiert und spielbereit: Kurz nach dem Essen ( satt und zufrieden ) oder lieber genau zwischen den Mahlzeiten (weil es sonst schon zu erschöpft und schläfrig ist ) ?

 

Ich habe mir in den schwärzesten Farben ausgemalt, wie der Haushalt zusammenbricht, um mir klar zu machen, daß der absolute Schwerpunkt des Tages die basale Stimulation sein wird. Welche Arbeiten sind absolut notwendig, welche kann man aufschieben und welche kann man sogar ganz wegfallen lassen? Wer kann mir vielleicht helfen? Kann der Ehepartner direkt auf dem Heimweg die Einkäufe erledigen? Schafft man finanziell eine Putzhilfe? Kann man seinen Stolz überwinden und Nachbarn oder Verwandte um Hilfe bitten? Bleibt irgendwann auch noch eine kleine Pause für einen selbst?

Und so entwickelte sich allmählich der Plan:

Morgens nach der ersten Mahlzeit wollte ich den ganzen Körper massieren und direkt anschließend die Beine stimulieren. Wenn ich Glück hatte, würde der große Bruder wenigstens einen Teil davon verschlafen...
Nach dem Mittagessen folgte die zweite und nach dem Abendbrot die dritte Stimulation der Beine. Abends konnte der Papa mit dem Großen in der Zeit spielen.

Die Zeit für die Krankengymnastik hatte ich damals schon länger in zwei Abschnitte geteilt, weil Martin sonst einfach nicht mehr mitmachte. Also mußte vor- und nachmittags noch je eine Viertelstunde geturnt werden. Da ich nicht nach der Stoppuhr leben wollte, blieb diese Zeit variabel und ich suchte dafür Momente, in denen er sich nicht mehr alleine beschäftigen konnte und ich doch mit ihm gespielt hätte.

 

 

Die Massage

Ich wollte einmal täglich den ganzen Körper massieren, damit Martin seinen Körper als Ganzes besser kennenlernt. Dazu gibt es ein schönes Buch von Frédérick Leboyer " Sanfte Hände ", Kösel. Außerdem werden heute viele Kurse angeboten, in denen man die Babymassage erlernen kann ­ was den großen Vorteil hat, daß man sofort alles ausprobiert und Fragen stellen kann. Ich habe Martin morgens massiert, um ihn wach und aufmerksam zu machen. Man kann auch abends beruhigend massieren, damit das Kind gut einschlafen kann. Es ist wichtig, mit der flachen Hand zu arbeiten, damit das Kind eine Fläche spürt und sich selbst wahrnehmen kann ­ und nicht viele kitzelnde Finger. Man kann z.B. Oliven- oder Mandelöl dazu verwenden.

 

 Die Brust
bulletGleichzeitig mit beiden Händen vom Brustbein nach außen streichen.
bulletKreuzweise: Die linke Hand streicht von der rechten Schulter zum linken Oberbauch und bleibt dort liegen bis die rechte Hand von der linken Schulter herunter streicht. Eine Hand soll immer am Körper bleiben!
Abbildungen aus: Nydahl, P.; Bartoszek, G.: Basale Stimulation, Neue Wege in der Intensivpflege. Urban Fischer, München 2000, 3. Aufl.

 

Der Bauch

bulletUnter der Brust beginnen und im Wechsel abwärts streichen, als wollte man den Bauch entleeren.

Die Arme

bulletDas linke Handgelenk festhalten und mit der anderen Hand von der Schulter aus ringförmig den gestreckten Arm entlang streichen. Man arbeitet langsam, mit gleichmäßigem Druck und in einer fließenden Bewegung. Das Kind soll spüren: "Mein Arm ist lang, rund und endet bei den Fingern." Also wird die Hand ausgestrichen und ich habe sie flach in meinen Händen gedrückt. ( Man kann auch die Finger einzelnd drücken und glattstreichen ) Dann hält wieder eine Hand das Handgelenk und die andere streicht über den Arm...

Mehrmals und danach folgt der rechte Arm.

Die Beine

bulletAuch die Beine werden ringförmig umschlossen und nach unten ausgestrichen. Für Martin war es besonders wichtig, ihn vorher die Hüfte spüren zu lassen, d.h. sie fest zu umschließen und zu drücken. Wenn man den Oberschenkel nicht mehr mit einer Hand umschließen kann, sollte man beide Hände zum Umschließen nehmen und danach die Hände nacheinander wieder nach oben versetzen, damit der Körperkontakt bestehen bleibt. Auch der Fuß wird mit ausgestrichen und die Zehen werden einzelnd gedrückt. Bei Martin wollte ich vermeiden, daß er einen Spitzfuß macht ( d.h. den Fuß streckt wie beim Ballett ). Also habe ich die Fußsohle nach oben gedrückt, kurz gehalten und den Druck wieder gelockert. Wenn der Fuß sehr verspannt war, habe ich mit den Daumen abwechselnd von der Ferse zu den Zehen gestrichen, bis ich den Fuß hoch gedrückt hatte und dann kurz dort gehalten.

Der Rücken

bulletZuerst quer über den Rücken:
bulletHierzu sollte das Kind quer auf dem Wickeltisch liegen! Übrigens kann man die Massage auch gut auf dem Boden sitzend durchführen und das Kind liegt auf den Beinen ­ dann sollte man es jetzt quer auf die Oberschenkel legen!
bulletBeide Hände liegen nebeneinander auf der oberen Schulter und die Hand, die näher zum Nacken liegt, streicht nach unten. Gleichzeitig streicht dann die erste Hand wieder nach oben und die andere nach unten. Man beginnt also am Nacken und wandert langsam Richtung Po. Dort angelangt versetzt man die Hände wieder nacheinander zur Schulter und beginnt wieder von vorne.
bulletDanach den Rücken entlang:
bulletDas Kind wird gedreht, damit es wieder längs zu einem liegt.
bulletMan streicht an der Wirbelsäule entlang abwärts bis zum Po. Möglichst gleichmäßig, langsam und mit gleichem Druck. Nach einigen Wiederholungen streicht man bis zu den Fersen hinunter, in einer einzigen, langen Bewegung.

 

 

Abbildungen aus: Nydahl, P.; Bartoszek, G.: Basale Stimulation, Neue Wege in der Intensivpflege. Urban Fischer, München 2000, 3. Aufl.

 

Das Gesicht

Dieser Bereich war Martin richtig unangenehm. Ich habe es immer wieder vorsichtig probiert, phasenweise auch ganz ausgelassen. Manchmal ließ er es zu, daß ich mit seinen Händen sein Gesicht gestreichelt habe.

bulletVon der Mitte der Stirn streicht man mit den Fingerspitzen den Augenbrauen entlang zur Seite und wieder zurück zur Mitte.
bulletDie Finger sind seitlich am Kopf gespreizt und die Daumen streichen zart seitlich an der Nase entlang der Stirn zu.
bulletMan legt die Daumen leicht auf die geschlossenen Augenlider und streicht an der Nase entlang abwärts zu den Mundwinkeln. Dann zieht man den Mund leicht in die Breite.

Überkreuzbewegungen

Bei Überkreuzbewegungen soll die gedachte Mittellinie zwischen rechter und linker Körperhälfte überschritten werden. Diese Bewegungen helfen, die Verknüpfung der rechten mit der linken Hirnhälfte zu fördern. Die Hirnhälften haben unterschiedliche Funktionen und je besser sie miteinander verknüpft sind, um so besser können komplexe Aufgaben gelöst werden.

bulletBeide Arme: Die Hände werden festgehalten und die Arme über der Brust überkreuzt und wieder seitlich ausgestreckt.
bulletEin Arm und ein Bein: Man faßt einen Fuß und die gegenüberliegende Hand, streckt sie aus und überkreuzt sie, daß der Fuß die Schulter erreicht und die Hand den Oberschenkel. Dann werden Arm und Bein wieder ausgestreckt und die anderen beiden Extremitäten gestreckt und überkreuzt. Im Wechsel.
bulletBeide Beine: Die Füße werden festgehalten und über den Bauch gekreuzt, sanft und langsam. Dann werden sie wieder gestreckt.

Weitere Möglichkeiten

bulletDie beruhigende Massage: Das Kind liegt auf dem Rücken und man streicht vom Brustbein aus gleichzeitig den rechten und linken Arm entlang bis zu den Händen. Danach streicht man vom Brustbein aus herunter bis zu den Füßen. Dann dreht man das Kind auf den Bauch und streicht gleichzeitig von der rechten und linken Seite zur Rückenmitte. Dabei beginnt man oben am Nacken und wandert langsam Richtung Po.
bulletBeruhigen kann diese Massage aber nur, wenn man warme Hände hat!
bulletDie belebende Massage: Jetzt streicht man von den Händen zum Brustbein und von den Füßen herauf zur Brust. Den Rücken streicht man von der Wirbelsäule aus zu den Seiten und beginnt dabei auch am Nacken und wandert herunter. Kühle Hände sind günstig!

 

 

Die Basale Stimulation

Natürlich gehört die Massage mit zur basalen Stimulation, aber im Sprachgebrauch hat es sich für mich so ergeben, daß ich es getrennt habe. Die Massage sollte Martin ein besseres Körpergefühl vermitteln, während die Stimulation der Beine helfen sollte, daß er seine Beine besser wahrnehmen und mehr bewegen sollte, um die Spastik zu vermindern.

Wenn während der Stimulation die Beine verspannt waren, habe ich mit angewinkeltem Bein weitergemacht und falls nötig auch den Fuß hoch gedrückt, um die Spastik zu unterbrechen.

Während der Stimulation soll sich das Kind voll darauf einlassen können und nicht durch weitere Reize abgelenkt werden. Martin konnte der Stimulation aber rein gar nichts abgewinnen und drehte sich weg oder versteifte sich wütend. Vielleicht war sein Gefühl in den Beinen wirklich so gering, daß es ihm einfach zu langweilig war, still zu liegen? Da half es auch nur äußerst kurz, "Kitzellieder" dazu zu singen. Also durfte er während der Stimulation mit den Händen etwas spielen und wir hatten einige Sachen nur für diesen Zweck griffbereit: Ein Fädelstab, eine kleine Flasche mit Drehdeckel, die er mit Wattestäbchen füllte, ein Plastiktier, dem man die Beine verstellen konnte... So hatten wir beide Spaß an der Sache und die Freude ist für Kinder zwingend notwendig, wenn sie aufnahmefähig sein sollen.

Zuerst habe ich die Beine wie bei der Massage ringförmig umschlossen und mit gleichmäßigem Druck Richtung Fuß ausgestrichen.

Da bei Martin das rechte Bein stärker betroffen war, habe ich immer zuerst links gearbeitet und danach rechts, damit Martin das Gefühl für den Reiz auf die schlechtere Seite übertragen konnte. Das gilt im Folgenden für jeden Reiz!

Danach folgte der Druck. Für mich das wichtigste Element, für das ich mir die meiste Zeit gelassen habe. Ich habe das Bein zwischen meine flachen Hände genommen und ruhig gedrückt, den Druck gehalten und langsam wieder gelockert. Mehrmals den Oberschenkel, dann den Unterschenkel und danach Beinwechsel.

Es folgten die Gelenke. Zuerst habe ich mit beiden Händen die Hüften umschlossen und Druck ausgeübt. Am linken Bein habe ich im Wechsel das gestreckte und das gebeugte Knie gedrückt. Anschließend folgte der Fuß in "Laufposition" und dann alles am rechten Bein.

Zur Vibration haben wir uns eine elektrische Zahnbürste angeschafft. Man kann sie mit einem weichen Tuch umwickeln. Martin mochte es einfach mit der glatten Rückseite.

Mit der Bürste bin ich von oben nach unten über die Muskeln gegangen. Als wir später vertrauter mit der Stimulation waren, habe ich sie auch an der Ferse angesetzt, damit Martin seine Knochen spüren konnte.

Es folgten die ausgewählten Materialien. Zuerst habe ich die Beine kreisförmig mit einer weichen Nagelbürste abgerieben. Danach habe ich mir dicke, weiche Baumwollsocken über die Hände gezogen und damit die Beine noch mal ringförmig "gemolken" . Das gleiche noch mit gestrickten Socken. Dann bin ich mit einem dicken Puderquast über seine Beine gegangen.

Abschließend habe ich versucht, mit Martins Händen seine Beine zu streicheln. Es war erschreckend wie wenig er das zu Anfang mochte. Deshalb habe ich die Beine mehr abgeklatscht als gestreichelt. Das gefiel ihm gut und im Laufes der Zeit mochte er auch das Streicheln. Dann habe ich mit seiner rechten Fußsohle das linke Bein gestreichelt und umgekehrt.

 

 

Der Erfolg

 

Nach 3 bis 4 Wochen fing Martin beim Wickeln an, aus eigenem Antrieb seine Beine und Füße zu berühren! Er hatte als Baby nie mit seinen Füßen gespielt.

Martin war recht oft krank und in dieser Zeit fiel die Krankengymnastik völlig aus. Selbst während der Zeit der Genesung ( nicht mehr akut krank, aber auch noch nicht ganz gesund ) war er nur sehr schwer zu den Übungen zu motivieren. Im Gegensatz dazu hat er meist die basale Stimulation gut toleriert, so daß ich sie nicht unterbrechen mußte. Dadurch fiel er in der Entwicklung nicht jedes Mal wieder zurück, sondern zeigte oft direkt nach der Genesung wieder einen kleinen Fortschritt.

Als Martin mit 3 Jahren beim Kinderarzt war, meinte dieser, daß er bei Diagnosestellung nicht geglaubt hätte, daß Martin jemals so weit kommen würde. Ich erzählte es betroffen Martins Physiotherapeutin und sie gab zu, daß sie damals auch nicht daran geglaubt hat. Wie gut, daß beide den Ernst der Lage klärten, aber nie hoffnungslos schilderten!

 

 

 

Der Verlauf

Die Beschreibung der basalen Stimulation fiel mir sehr schwer, weil ich mir damals keine Notizen gemacht habe und sich im Laufe der Zeit einiges geändert hat. Im Prinzip ist die Durchführung immer so geblieben, aber je nach Entwicklungsstand habe ich andere Schwerpunkte gesetzt oder auch mal einen Teil gegen einen anderen ausgetauscht.

Als ich anfing, hat Martin gerobbt. Dabei schleifte er das rechte Bein nur mit und das linke Bein wurde ohne viel Kraft leicht bewegt. So habe ich mir besonders viel Zeit für die Überkreuzbewegungen und für den Druck gelassen. Als er immer öfter kleine Stückchen krabbelte, verkürzte ich die Überkreuzbewegungen und verlängerte dafür das Streicheln der Beine mit seinen Händen und Fußsohlen.

Zwischendurch passierte es auch, daß ich wieder Bücher wälzte und mir klar wurde, daß ich einen Programmteil schon eine Weile vergessen hatte. Oder ich sah mit der ersten Erfahrung das Gelesene mit ganz anderen Augen und führte etwas Neues ein.

Als Martin später überwiegend krabbelte und nur noch selten robbte, habe ich die abendliche Stimulation gestrichen, weil er dadurch immer wieder richtig munter wurde. Nach dem Laufenlernen habe ich nur noch morgens stimuliert. Als der große Bruder in den Kindergarten kam, wurde der Morgen so hektisch, daß so ein langes Programm undurchführbar wurde. Irgendwann taucht ja auch die Frage auf, was jetzt überhaupt noch nötig ist. Also habe ich nach 14 Monaten ( Martin war 2,5 Jahre ) ein "Kurzprogramm" eingeführt. Es umfaßt eine kurze Massage mit Benennen der Körperteile, einschließlich rechts und links. Die Beine werden gedrückt und der wichtigste Teil ist jetzt die Spitzfußprophylaxe (s.u.). Der Rest des Programms rutscht irgendwie in den Alltag hinein, da wird mal beim Schmusen Druck ausgeübt oder im Vorbeigehen fällt einem die Unsicherheit besonders auf und man schiebt schnell eine "Knubbelrunde" ein.

Was mir jetzt besonders am Herzen liegt, ist die Spitzfußprophylaxe (= vorbeugende Maßnahme gegen den Spitzfuß). 2x täglich massiere ich die Füße hoch, daß der Fußrücken möglichst nah an das Bein kommt und halte sie dort kurz, bis Martin keinen Gegendruck mehr ausübt. Die Physiotherapeutin hat mir jetzt erklärt, daß es auch wichtig ist, das Knie und die Hüfte zu strecken, aber das muß man sich zeigen lassen.

 

 

Aus dem Alltag

Es ist wichtig, daß die Verspannungen ( der Spasmus ) so selten wie möglich auftreten. Martin reagierte auf schnelle Bewegungen fast immer mit einer Spastik in den Beinen. Also wurden meine Bewegungen beim Heben, Tragen oder Wickeln langsamer und ruhiger. Er hatte es auch bedeutend lieber, wenn ich ihn über die Seite aus dem Bett gehoben habe. Mit der Zeit kann man viele Situationen vermeiden, die früher eine Spastik erzeugt haben. Außerdem habe ich immer, wenn ich einen Spasmus bemerkt habe, sofort die Beine gebeugt und die Füße hoch massiert bis die Beine wieder locker waren.

Man konnte Martin früher nicht auf der Hüfte tragen, so daß ich ihn immer vor dem Bauch tragen mußte. Dabei verspannte er sehr schnell. Es reichte dann oft, den Arm nicht unter dem Po zu haben, sondern in die Kniekehlen zu legen. Dann kann man den Oberkörper stützen und das Kind nach unten sacken lassen, so daß die Beine vom eigenen Körpergewicht gebeugt werden. Man kann auch das Kind umdrehen, daß der Rücken vom eigenen Oberkörper gestützt wird und dann das Kind auf dem Arm sitzen lassen.

Es dauerte nicht lange und der Spasmus ließ sich leichter lockern und trat auch seltener auf. Dennoch neigen die Kinder dazu, auf Zehenspitzen zu laufen und schließlich doch eine Sehnenverkürzung zu erleiden, so daß die Spitzfußprophylaxe enorm wichtig ist.

Übrigens gilt das gleiche für die Hand. Wenn die Hände häufig zu Fäusten geballt werden, sollte man sie regelmäßig zur flachen Hand "ausstreichen". Man kann dem Kind verschiedene "Rollen" zum Greifen geben, damit die Faust nicht ganz geschlossen werden kann: z.B. Kuscheltiere, die sich waschen lassen ( Schwitzen ) und die sich unterschiedlich schwer zusammendrücken lassen, runde Plastikflaschen lassen sich mit unterschiedlichen Stoffen bespannen oder für das wache Kind kann man solche Flaschen ( gut verschlossen ! ) mit Erbsen, Bohnen oder Zucker füllen, so daß sie gleichzeitig zum Bewegen und Lauschen anregen.

Hier noch einige der Lieblingsspiele, die auch Besucherkinder erfreuten.

bulletFür den letzten Winter hatten wir 2 Schüsseln mit Linsen, die auf einer großen Decke ausgeschüttet wurden. Zuerst wurde klargestellt, daß sofort alles weggeräumt wird, wenn mit den Linsen geworfen wird. Dann konnten die nackten Füße eingebuddelt werden oder man konnte darüber laufen oder mit den Händen darin wühlen. Später wurde immer mehr Sandkastenspielzeug hergeholt oder Autos wurden mit Linsen beladen. So haben wir manchen trüben Wintertag vergnügt zugebracht und ich hatte sogar mal eine kleine Pause. Wenn man es dann noch schafft, das Spiel anzubieten, wenn man sowieso das Wohnzimmer saugen wollte, ist man einfach Spitze!
bulletAls Martin anfing mit Stiften zu kritzeln, zeigte sich, daß er so wenig Druck ausübte, daß auf dem Papier kaum etwas zu erkennen war. Die Tiefensensibilität war kaum ausgebildet. Er sollte Schweres ziehen und drücken, um seine eigene Kraft zu spüren. Besonders empfohlen wurde mir Kneten und dabei kann man die Hände auch prima zwischen 2 Kneteplatten drücken. Das Lustigste war aber die Idee, mit einer Knoblauchpresse Spaghetties herzustellen, und es kostet wirklich viel Kraft.
bulletNach dem Baden krabbeln die Kinder nackt ins Bett und ich suche und rate ( und drücke ) die einzelnen Körperteile. Wenn wir genug davon haben, schockel ich sie auf der Matratze und wenn sie dann noch "ah" sprechen, können sie die Vibration auch hören. Obendrein wird der Tastsinn in der Dunkelheit noch stärker empfunden.
bulletWir haben uns eine große, breite Hängematte aus Stoff geleistet. Wenn man sich hineinlegt, wird man von 3 Seiten umschlossen. Das Schaukeln ist eine elementare Erfahrung und hat nebenbei Martins Einschlafprobleme beim Mittagsschlaf gelöst. Die Hängematte hängt quer im Kinderzimmer (eine Wolldecke liegt zum Schutz darunter und soll frei von Spielzeug bleiben), so daß Martin häufig drüber klettert oder am Ende leicht gebückt drunter her laufen kann ­ beides krankengymnastische Übungen... Beide Kinder nutzen sie als Rückzug bei Müdigkeit und Langeweile.

Für die krankengymnastischen Übungen habe ich mir im Bekanntenkreis Spielzeug ausgeliehen, mit dem er bei Besuchen intensiv gespielt hatte. Nach dem Turnen wurde es nach kurzem Genuß sofort wieder verstaut und war so eine besondere Motivation.

Als Martin anfing nur noch zwischen den Fersen zu hocken, was ja für Sehnen und Gelenke die denkbar schlechteste Haltung ist, habe ich für ca. 2 Wochen das Turnen ganz ausfallen lassen und mich dafür auf die Sitzhaltung konzentriert. Sobald er sich so hinhockte, habe ich die Beine nach vorne geholt, daß er mit gestreckten Beinen saß, oder ich habe ihn wenigstens auf die Fersen gesetzt. Als Idee ja nicht schlecht, aber mit der Zeit stellte sich heraus, daß er überhaupt keine Ruhe mehr hatte, alleine zu spielen, und ich war durch das ständige Aufpassen auch schon ganz unzufrieden und stellte fest, daß ich noch nicht mal mit ihm toben konnte, ohne an seine Haltung zu denken ­ man kann auch alles übertreiben! Also kehrte ich zu einem Mittelmaß zurück, daß ich ihn mehrmals täglich, wenn es nicht zu sehr störte, korrigierte. Während der Turnzeit konnte ich das Sitzen ja auch noch üben...

Als Martin 1,5 Jahre alt war packte mich der große Frust. Alle anderen Kinder tollten herum und spielten vergnügt im Herbstwetter. Wir hatten immer noch ein "Baby", das ständig getragen und beachtet werden mußte. Andrerseits war Martin kein Kind, das glücklich im Kinderwagen saß und durch die Gegend fuhr. Also hatten wir ein großes Sortiment an Buddelhosen und Schneeanzügen und Martin konnte zufrieden über den nassen Rasen robben und krabbeln.

 

Aber wie geht man mit diesen Frustphasen um? Manchmal wirkt es wie Hohn, wenn jemand dahergelaufen kommt und behauptet "Oh, der Martin hat sich jetzt aber toll gemacht!" Manchmal kommen diese unbequemen Fragen einfach hoch: Warum bei uns? Warum haben es die anderen so leicht und jammern über irgendeinen Unsinn? Wären wir weiter, wenn ich eine andere Therapie gefunden hätte? Wie geht man mit der eigenen Empfindlichkeit um, wenn Fremde sich amüsieren, wie "süß" der Kleine da vor sich hin stolpert? Wie schaffen das eigentlich die Eltern von lebensbedrohlich kranken Kindern? ­ An dieser Stelle danke ich den Freunden, die sich die Fragen und das Jammern immer wieder anhören, nicht sofort alles abtun und doch wieder alles ins rechte Licht rücken. Letztendlich steht uns die Trauer um das, was hätte sein können, sicherlich zu, aber sie soll uns ja auch nicht die Freude an dem, was wir haben, nehmen.

 

Als Martin laufen konnte, zeigte er einen unglaublichen Forschungsdrang. Es gab wilde Szenen, wenn wir nach Hause gehen wollten. Nach Ausflügen fragte er im Auto beiläufig, wohin wir fahren, und wenn die Antwort "nach Hause" lautete, kam ein Schreianfall. Ich war verletzt "so schrecklich ist es bei uns zu Hause ja nun schließlich auch nicht!" Es dauerte eine Weile bis ich begriff, daß es nur um das Entdecken ging. Ich verlegte die Turnstunde nach draußen und er durfte ganz allein bestimmen, wohin er laufen wollte. Wir stromerten durch das Gebüsch, wechselten 1ooo Mal die Straßenseite, liefen über Mäuerchen und er untersuchte jeden Stein, wühlte im Dreck und war glücklich. Nach 1 ­ 2 Wochen hatte er begriffen, daß "seine" Zeit irgendwann um ist und wir ansonsten nach meinen Wünschen spazieren gehen. Aber in dieser Zeit suchte er sich selbst unebenes Gelände, Schrägen, kleine Stufen und etwas zum Klettern, daß ich die Turnstunde nicht besser hätte gestalten können. Vor allen Dingen war er sehr viel ausgeglichener und irgendwann kam für mich der glückliche Tag, als er ohne Protest einfach mit nach Hause kam, denn seinen Entdeckungsdrang konnte er jetzt ausreichend befriedigen.
Insgesamt bin ich viel aufgeschlossener für jegliche Art von "Matscherei" geworden. Auch als es im Frühjahr eigentlich noch zu kalt war, durften die Kinder eine Weile mit Wasser "arbeiten" und sich in der Wanne wieder aufwärmen. Trotz Buddelhosen lief die Waschmaschine auf Hochtouren ­ aber der Aufwand lohnt sich, denn das Matschen ist mehr als vergnügtes Spiel!

 


 

 

Sein und unser Verhalten

Ein besonderes Problem ist manchmal das Verhalten. Auffälligkeiten kommen natürlich nicht nur bei behinderten Kindern vor, aber die Schwierigkeiten mit der Motorik erzeugen bedeutend mehr Frustrationserlebnisse und beim schwerstbehinderten Kind sind die Möglichkeiten, sich selbst und die Umwelt zu erleben und zu entdecken radikal eingeschränkt. So beobachtet man häufig ständig wiederkehrende Bewegungen, die keinem erkennbaren Zweck dienen ( Stereotypien ), verschiedene Schaukelbewegungen ( Autostimulation ) oder auch selbst schädigende Verhaltensweisen wie Beißen oder Schlagen mit dem Kopf.

Als hätte man noch nicht genug Probleme, gerät man gerade hier schnell unter Druck, weil Fremde und Verwandte meinen, daß das Problem mit etwas konsequenter Erziehung schnell in den Griff zu bekommen sei. Die Vorschläge reichen von "Da mußt du auch mal hart durchgreifen und ihm ordentlich was hinten drauf geben!" bis zu "Du mußt ihm nur kaltes Wasser über den Kopf schütten, dann hört das auf! Damals bei dem Kind von Sowieso hat das auch geholfen, als sich das Kind immer vor Wut weg geschrien hat." Gleichzeitig wird natürlich anerkannt wie toll man das alles macht -­ "Aber in diesem Punkt bist du einfach zu weich!" Das Problem ist, daß besonders die Autoaggressionen sofortige Aufmerksamkeit und Zuwendung zur Folge haben. So entsteht sehr schnell der Verdacht, daß das Kind dies bewußt oder unbewußt anwendet, um seinen Willen durchzusetzen.

Kurz vor dem ersten Geburtstag fing Martin an, seinen Kopf auf den Boden zu schlagen. Beim Hochnehmen mußte man äußerst vorsichtig sein, weil er gar nicht aufhören konnte und solche Schläge im Gesicht äußerst schmerzhaft sind. Wir waren fassungslos. "Das ist ja wie bei einem autistischem Kind!" Und wir mußten feststellen, daß keiner so richtig Rat wußte. Bei genauerer Beobachtung stellte sich heraus, daß dieses "Botzen", wie wir es nannten, immer auftrat, wenn er frustriert war: Er schaffte etwas nicht, er konnte sich nicht wehren oder er durfte etwas nicht.

Also blieb für ein 1jähriges Kind vor allem der Trost. Ich habe ihn wirklich fest im Arm gehalten, um ihn und mich zu schützen, bis er sich völlig beruhigt hatte. Dabei war zwar die Haltung fest, aber die Stimmung unbedingt liebevoll. ( Das entspricht der Festhaltetherapie von Jirina Prekop, siehe Buchtip ) Wichtig war dabei auch wieder, ihn "rund" zu halten, damit er nicht in die Überstreckung geriet. Danach habe ich versucht, ihm bei seinem Problem zu helfen ­ erzieherisch heißt das ja nicht unbedingt, daß er seinen Willen bekommt!

Von der Heilpädagogin der Frühförderstelle kam der Vorschlag, den Kopf bewußter zu machen und den Frust umzulenken. Also massierte ich den Kopf mit einer weichen Nagelbürste und mit den Fingerspitzen, was er halbwegs tolerierte. Im Gesichtsbereich war die Stimulation leider schwierig und die Stirn war durch die blauen Flecken zu schmerzempfindlich. Um den Frust umzulenken, nahm ich seine Hand, klatschte rhythmisch auf den Boden und rief im Takt: "Ich bin sauer! Ich bin sauer!" Ich hatte den Eindruck, daß ihn das fasziniert. Er hätte es vielleicht lernen können. Aber als er dann zufällig einen Duplostein in der Hand hatte und im "Botz-Rhythmus" mit ungewöhnlicher Kraft auf den Kopf des Bruders schlug, wollte ich dieses Umlenken auf die Hand doch lieber nicht vertiefen, denn die Vorstellung, alle mitspielenden Kinder auch noch schützen zu müssen, war für mich unerträglich. Als Martin später stehen lernte, versuchte ich den Frust auf den Fuß umzulenken. Dabei nahm ich seinen rechten Fuß (sein Standbein ist links), stampfte damit auf den Boden und rief wieder im Takt dazu. Aber auch das erwies sich als schwierig, weil sein Stand einfach zu unsicher war. Ich stellte mich hinter ihn, damit er sich anlehnen konnte und dennoch war es schwierig und Martin oft kurz vor dem Hinfallen. Oder Martin konnte das Kopfschlagen nicht stoppen, so daß ich ihn erst festhalten mußte ­ und wenn er sich dann beruhigt hatte, paßte das Aufstampfen nicht mehr zu seiner Gefühlslage. Letztendlich schaffte ich es nicht, seinen Frust umzulenken. Selbst jetzt mit 3,5 Jahren kann Martin immer noch nicht richtig aufstampfen, so daß es allein von der Motorik auch gar nicht durchführbar war.

Als Martin dann in das sogenannte Trotzalter kam, spitzte sich die ganze Situation zu. Es folgten die gut gemeinten Ratschläge, so daß ich schließlich gegen mein Gefühl tagelang versuchte, das Botzen zu ignorieren. Ich verließ den Raum und kam zurück, sobald er aufhörte. Es war schrecklich und es zeigte sich, daß das Botzen verzweifelter und wilder wurde ­ wir litten unbeschreiblich, bis ich eindeutig wußte, daß es kein Trotzanfall, kein Erziehungsproblem, sondern ein Hilferuf ist.

Inzwischen hatte Martin schon gut sprechen gelernt, so daß jetzt weitere Möglichkeiten bestanden. Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein festes "Trostprogramm". Wenn Martin botzte, sprach ich ihn tröstend an, ob er auf meinen Arm wolle. Anfangs reagierte er nicht, schlug weiter und ich nahm ihn hoch. Doch bald kam der glückliche Moment, daß er alleine aufhörte und auf meinen Arm krabbelte ­ was für ein Schritt! Ich tröstete ihn mit Wiegen und Festhalten. Wenn er sich beruhigt hatte, versuchte ich zu beschreiben, wie er sich fühlt. "Ich glaube, du bist jetzt richtig wütend / ärgerlich / traurig / enttäuscht, daß..." Anfangs kam nur ein schluchzendes "Ja", später konnte er immer besser erzählen, was passiert war. Danach folgte meine Frage: "Was können wir denn jetzt tun?" Und wir überlegten, ob ich ihm helfen soll, ob er es vielleicht anders ausprobieren kann oder ob man sich im Spiel besser abwechseln kann etc. Dieser bewußte Ablauf von "Trost ­ Beschreiben ­ Lösung suchen" hat Martin sehr geholfen. Das Botzen wurde seltener, er hatte auch schon eine längere Pause, aber es tritt auch heute immer noch auf. Besonders anfällig ist er für dieses Verhalten, wenn er hungrig oder müde ist. Aber inzwischen fällt uns der Umgang damit leichter und wir hoffen natürlich, daß er bald ganz ohne Botzen mit seinen Problemen umgehen kann.

Leider habe ich das Buch "Basale Stimulation, das Konzept" erst vor kurzem gelesen, denn damals war ich froh, daß ich es schaffte, das Buch "Basale Stimulation in der Pflege" zu lesen. Gerade zu diesem Thema hätte ich aber im Konzept mehr Hilfe gefunden und mir viele Sorgen erspart.

 

 

 


Und nun doch noch Theorie

 

Erstaunt stellt man fest, daß besonders im Umgang mit Säuglingen viele Handlungen (über die wir noch nie nachgedacht haben ) stimulierend wirken. Aber bei der basalen Stimulation geht es darum, daß wir bewußt aussuchen, was unser Kind im Moment braucht!

bulletDie auditive Stimulation
Hörangebote sollen für das Kind klar einzuordnen sein. Für junge Säuglinge bieten sich vor allem der mütterliche Herzschlag und vertraute Stimmen an. Allgemein kann man sagen, daß eine Vielzahl neuer Geräusche eine Überforderung darstellt.
Lieder und Verse beinhalten immer einen eigenen Rhythmus. Deshalb kann man damit gut die Gleichmäßigkeit einer Massage, des Schaukelns o.ä. verstärken und vertiefen.
bulletDie visuelle Stimulation
Der junge Säugling sieht hell und dunkel und erkennt Umrisse auf kurzer Distanz, 10-15 cm.
Dann nimmt das Baby eigene Körperteile wahr. Umrisse bis zu 1-2m folgen. Danach unterscheidet es einzelne Gegenstände und erkennt einzelne Farbstufen.
Zur Stimulation verwendet man Schwarzweißbilder mit einfachen Motiven (ohne Grau ). Man kann z.B. aus weißer Pappe einen Kreis ausschneiden und eine schwarze Spirale darauf kleben. Besonders zu Anfang muß man alle "Seh-Angebote" sehr nah ins Bett stellen ( bei Seitenlage ) oder darüber hängen!
Später fördern starke Farbkontraste die Entwicklung der Sehfähigkeit.
bulletDie orale Stimulation
Für den Säugling hat der Mund eine zentrale Bedeutung in der Wahrnehmung!
Die geläufigste Form der oralen Stimulation beherrscht jede Mutter: Wenn das Baby nicht so recht trinken möchte, bestreicht man mit der Brustwarze oder dem Sauger die Lippen und läßt auch schon mal einen Tropfen herauslaufen, damit das Baby auf den Geschmack kommt...
Um den Mundbereich bewußt zu machen, kann man mit den Händen von den Wangen aus zu den Lippen streichen: Langsam, eindeutig und fest ­ kein oberflächliches Wischen. Mit verschiedenen Materialien kann man die Empfindungen verstärken, z.B. mit einem Waschlappen, der warm oder kühl sein kann, mit einem weichen Tuch oder einem Puderquast.
bulletDie vestibuläre Stimulation
Diese Stimulation versucht den Gleichgewichtssinn und die Orientierung im Raum zu fördern. Ebenso soll die Fähigkeit gefördert werden, unwillkürlich auf eine veränderte Körperposition zu reagieren, um das Gleichgewicht zu halten.
Zur Stimulation zählen alle Arten von Wiegen und Schaukeln. Ebenso alle krankengymnastischen Übungen zum Drehen, Sitzen, Abstützen oder Stehen. Auch hierbei darf man nicht vergessen, daß die regelmäßige Anwendung über einen langen Zeitraum wichtig ist.
Langsame Bewegungen wirken beruhigend, schnelle Bewegungen eher anregend.

 

bulletDie vibratorische Stimulation
Vibrationen werden vorwiegend von unserem Skelettsystem weitergeleitet, z.B. beim Gehen und Sprechen. Diese rhythmischen Empfindungen geben uns Informationen über unsere Körpertiefe und ­fülle und sie beeinflussen den Muskeltonus ( = die Anspannung der Muskeln ) und auch unser Empfinden bei Bewegungen. Jeder Rhythmus beinhaltet aber noch eine andere Qualität: Er weckt unsere Aufmerksamkeit und ermöglicht ein Hineinhorchen in uns selbst.
Die Vibration ist ein sehr intensiver Reiz, der unbedingt vorher selbst ausprobiert werden sollte und danach erst vorsichtig am Kind! Als Vibrationsgeräte eignen sich elektrische Zahnbürsten oder ein Rasierapparat, möglichst mit Akku.
Vibrationen am Muskel wirken eher lokal, weil die weichen Muskeln die Vibration abfangen. Dabei darf kein Spasmus ausgelöst werden! Vibrationen an den Röhrenknochen werden im Skelett weitergeleitet und sind tiefer zu spüren: Am Ellenbogen angesetzt spürt man den Arm und an der Ferse angesetzt spürt man das Bein.
Wenn die Kinder in der Entwicklung schon weiter sind, ist die einfachste Methode das Stampfen auf dem Boden, um die Beine zu spüren, und das Klopfen mit dem Ellenbogen auf dem Tisch, um die Arme zu spüren... ( Finger- und Kreisspiele )
Durch die eigene Stimme löst man am Brustkorb Vibrationen aus, die mit den Händen zu spüren sind, wenn man sie auf den Brustkorb legt. Ebenso kann man die Vibration hören, wenn das Kind auf einer Matratze liegt und ein langes "ah" spricht und dabei von uns schnell runter gedrückt und wieder losgelassen wird. ( Mit weniger Anstrengung vibriert das "ah" allerdings beim Fahrradfahren auf einem Schotterweg... )
bulletDie taktil-haptische Stimulation
Der Greif- und Tastsinn gehört eigentlich mit in den somatischen Bereich, wird aber bei der basalen Stimulation extra behandelt.
Taktile Empfindungen sind besonders stark an Fingerkuppen und Lippen ausgeprägt. Der Tast- und Greifsinn ermöglicht es uns, nicht nur zu spüren, sondern durch den aktiven Vorgang des Abtastens und Greifens unsere Umwelt zu identifizieren (Was ist das? ) und zu Differenzieren ( Ist das wichtig für mich? ) ­ also zu be-greifen!
Das ideale Tastspielzeug ist der eigene Körper: Wir führen die flache Hand über den Kopf, das Gesicht, den Bauch, die Arme und Beine... Auch die Fußsohlen können ( geführt ) die Beine ertasten und dadurch Länge und Position registrieren.
Der Tastsinn kann genutzt werden, um die Situation begreiflich und dadurch vielleicht angenehmer zu machen. Im Alltag soll das Kind die Möglichkeit haben, alles anzufassen: Die glitschige Seife beim Waschen, die Kleidungsstücke vor dem Anziehen...
bulletDie somatische Stimulation
Die somatische ( = körperliche ) Wahrnehmung umfaßt die Wahrnehmung durch die subcutanen ( = unter der Haut liegenden ) Muskelschichten: Druck, Bewegung, Schmerz, Kälte, Wärme und Kitzel. So erleben wir Empfindungen von der Körperoberfläche und auch aus dem Körperinnern. Diese Tiefensensibilität der Muskeln und Gelenke ( Stellung, Bewegung und Kraft ) wird Propriozeption genannt. Einfach ausgedrückt: Die Eigenwahrnehmung des Körpers soll gefördert werden.
Berührungen sind eine Form der Kommunikation, bei der das "wie" entscheident ist. Zu schnelle und flüchtige Bewegungen verunsichern und verwirren. Deshalb sollen die Berührungen klar, eindeutig und fest sein.
Wird jemand von Haut zu Haut berührt, bekommt er Informationen über die Beziehung. Wird er aber mit einem Medium berührt ( Waschlappen, Lotion ), werden in erster Linie Informationen über ihn selbst vermittelt.
Bei der Massage werden die Körperformen nach- bzw. herausmodelliert. So werden z.B. die Arme mit der Hand umschlossen und mit gleichmäßigem Druck, in einer fließenden Bewegung gerieben, damit das Kind wahrnimmt " Mein Arm ist lang, rund und endet bei den Fingern". Beim Hin- und Herreiben erhält man eher den Eindruck, daß der Arm aus Streifen und Flächen besteht.
Das Kind soll seine Körpergrenzen spüren ­ vergleichbar mit dem Leben im Mutterleib, als es noch bei jeder Bewegung an die Gebärmutterwand stieß. Im Bett kann man dem Kind ein "Nest" bauen, wenn man eine Rolle rings um den Körper legt. Dazu eignen sich große Handtücher oder kleine Decken, die man aufrollt. Besonders schön, leider auch teuer, geht es mit gekauften Lagerungsrollen aus dem Sanitätsgeschäft...
Die Körperschwere und die Körpergrenzen der Extremitäten kann man auch erfahrbar machen, wenn man den Arm / das Bein in ein großes Handtuch legt und hochhebt. Dabei müssen die Finger / Zehen mit dem Handtuch umschlossen werden. Man kann den Arm / das Bein auch sanft hin und her bewegen.
Man kann die Haut föhnen ­ mehr Spaß macht sicherlich pusten oder der warme Sommerwind!

 

 

Nachwort

Beim Durchlesen hört sich jetzt alles so perfekt an, aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Da gab es die hektischen Tage, an denen ich mich erwischte, alles etwas kürzer zu machen. Im Notfall habe ich lieber das Programm gekürzt als es ganz ausfallen zu lassen ­ beim nächsten Mal wäre die Hemmschwelle schon wieder niedriger gewesen, es doch nur jetzt ausfallen zu lassen... Dann die frustrierten Tage, an denen die Kinder nur zu "knatschen" schienen und man sich fragte, ob man nicht doch alles falsch macht. Es war eine anstrengende Zeit. Der große Bruder hatte verständlicherweise mit Eifersucht zu kämpfen, der Papa litt unter Zeitmangel und der Anspannung und ich fühlte mich oft am Rand meiner Kraft.

Wenn uns das Programm schwer fiel und wir keinen rechten Spaß dran hatten, war rückblickend immer der Zeitpunkt gekommen, um etwas zu ändern. Ich brauchte mehrere Tage, um Martin zu beobachten und zu überlegen, was jetzt in der Entwicklung wichtig ist. Oft half mir auch das Gespräch mit der Physiotherapeutin. Und dann wuchs so langsam die Idee und ich tauschte ein Programmteil gegen ein anderes aus oder setzte einen anderen Schwerpunkt. Plötzlich war die Motivation wieder da und Martin hat auch wieder besser mitgemacht. Diese Behandlung ist wirklich ein gemeinsamer Weg.

Ich hoffe, daß ich alles verständlich beschrieben habe! Vor allem hoffe ich, daß ich Sie ermutigen kann, sich weiter mit der basalen Stimulation zu beschäftigen! Vielleicht geht es Ihnen wie mir, daß Sie jetzt schon bei der Krankengymnastik einige Handgriffe mit ganz anderen Augen sehen, ins Gespräch kommen und schon wichtige Anregungen erhalten...

Über weitere Anregungen freue ich mich sehr und auch für Nachfragen oder einem Austausch bin ich aufgeschlossen.

Birgit Pullich, Am Buschkamp 13, 47574 Goch, Tel: 02827/5344, e-mail: hpullich@gmx.de

 

 

Da Information alles ist und ich eine rechte Leseratte bin, kann ich nicht umhin noch einige Bücher zu nennen, die mir sehr geholfen haben:

bulletRoswitha Defersdorf, Drück mich mal ganz fest. Geschichte und Therapie eines wahrnehmungsgestörten Kindes, Herder Spektrum (liest sich ganz leicht, enthält dennoch viele Informationen und weckt Einfühlungsvermögen)
bulletRoswitha Defersdorf, Ach, so geht das! Wie Eltern Lernstörungen begegnen können, Herder spektrum (betrifft Schulkinder)
bulletA. Jean Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung. Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes, Springer Verlag ( toll erklärt )
bulletJirina Prekop, Der kleine Tyrann. Welchen Halt brauchen Kinder?, Kösel Verlag
bulletBritta Holle, Die motorische und perzeptuelle Entwicklung des Kindes, Ein praktisches Lehrbuch für die Arbeit mit normalen und retadierten Kindern, Psychologie Verlags Union ( sehr theoretisch, aber viele Übungsbeispiele )

Für 3,00 DM in Briefmarken gibt es eine Broschüre: Mein Kind ist behindert. Diese Hilfen gibt es, zusammengestellt von Bernd Masmeier ( Hinweise auf finanzielle Hilfen für Familien und erwachsene Menschen mit Behinderung ): An den Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Brehmstraße 5-7, 40239 Düsseldorf

Dort erhält man auch das aktuelle Verzeichnis der Veröffentlichungen des Bundesverbandes (verlag selbstbestimmtes leben), zum Beispiel:

bulletAndreas Fröhlich, Basale Stimulation, ISBN 3-910095-10-0, 29,80 DM
bulletKinder mit cerebralen Bewegungsstörungen I, eine Einführung, 7,- DM
bulletKinder mit cerebralen Bewegungsstörungen II, Förderung und Therapie, 7,- DM

 

 

Nachtrag

Inzwischen ist Martin 4 1/2 Jahre alt und ich hatte (endlich) Gelegenheit, eine Fortbildung in der basalen Stimulation zu besuchen. So möchte ich jetzt meinem Bericht noch ein paar Ideen zu jungen Säuglingen hinzufügen. Martin war ja schon 14 Monate alt, als wir mit der Basalen Stimulation begannen.

Gerade Frühgeborene vermissen das vertraute Gefühl, daß ihr Körper vom Fruchtwasser umspült wird und von der Gebärmutter gleichmäßig fest gedrückt wird. Sich selbst spüren zu können, ist aber für die weitere Entwicklung und für das Wohlbefinden enorm wichtig!

Basale Stimulation möchte keine Extra-Therapie sein, sondern ist eine Möglichkeit, dass man die Pflege des Kindes so gestaltet, daß es sich dabei selbst gut spürt.

Deshalb ist die Lagerung im "Nest" für das Frühgeborene so besonders wichtig. Es spürt seine Körpergrenzen und beim Bewegen auch einen Widerstand / einen Druck. Es liegt nicht im Raum verloren, sondern kann sich spüren - und entspannen.

Das Eincremen ist auch eine gute Gelegenheit, den eigenen Körper wahrzunehmen.

Man kann das Kind dabei gut auf die eigenen Beine legen oder auch wieder mit einer Rolle ein "Nest" für das Kind schaffen. Es ist günstig, am Rumpf zu beginnen:

Der Bauch wird wie vorne beschrieben diagonal eingecremt ( von der rechten Schulter zur linken Hüfte und umgekehrt, mit gleichmäßigem, festen Druck, eine Hand bleibt immer am Körper). Bei Blähungen ( und wenn das Kind es mag) kann man den Bauch auch noch im Uhrzeigersinn massieren.

Das Kind wird über die eigene Seite gerollt und der Rücken wird auch diagonal eingecremt.

Wenn man das Kind hochhebt und in der Luft dreht, kann es die Bewegung nicht nachvollziehen. Es kann sich aber gut spüren, wenn es ruhig und langsam über die Seite gedreht wird. Wenn der Rücken eingecremt ist, wird das Kind wieder über die eigene Seite zurück gedreht. ( Möglichst abwechselnd über die rechte und linke Seite drehen oder, wenn das Kind eine Seite bevorzugt, die vernachlässigte Seite häufiger spüren lassen. )

Die Arme werden ringförmig umfaßt und zu den einzelnen Fingern ausgestrichen. Die Beine ebenso und auch die einzelnen Zehen ausgestrichen.

Zuletzt sollte das Gesicht eingecremt werden, weil es die meiste Abwehr hervorruft. Man cremt mit beiden Händen gleichzeitig von der Stirnmitte nach außen, von der Nase über die Wangen und von der Mitte des Kinns nach außen und unten.

Jede Handlung kann 2 bis 3x durchgeführt werden und das Kind sollte sich dabei wohl fühlen.

Wenn es unruhig wird, können die Bewegungen noch ruhiger werden und vielleicht können die Hände auch einfach mal still verweilen, damit das Kind sich finden und wieder folgen kann.

Auch das Baden ist eine gute Möglichkeit für das Kind, sich zu spüren.

Wenn das Kind bisher ungern gebadet hat, wird es vielleicht besser.

Vor dem Bad kann man die Hände u./o. die Füße des Kindes den nassen Waschlappen spüren lassen oder sie einfach mit den eigenen nassen Händen umfassen, um das Kind auf das Bad einzustimmen.

Dann wird das Kind eher sitzend gehalten, damit zuerst nur die Füße des Kindes ins Wasser tauchen. So verweilen, damit sich das Kind auf die Wahrnehmung einlassen kann und dann das Kind langsam in die Wanne setzen. Dabei ist es wichtig, die Füße an den Wannenrand zu bringen, damit das Kind auch hier die Grenzen spürt und sich nicht verloren fühlt. Gerade junge Säuglinge nehmen noch besonders stark mit den Füßen Reize auf, weil sie ja auch in der Gebärmutter durch die zunehmende Enge dort ständig einen Druck verspüren - und dieser vertraute Druck gibt ihnen Sicherheit.

Wenn sich das Kind gut an das Wasser gewöhnt hat, kann man es langsam in die liegende Position bringen und es soll in Ruhe Arme und Beine bewegen können, damit es das Wasser spüren kann.

Auch beim Waschen wird nie im Gesicht begonnen, sondern lieber am Rumpf.

Wenn das Kind den Waschlappen nicht mag, kann man es auch einfach mit den Händen waschen und die Hautfalten ausstreichen, denn schließlich spielt es noch nicht im Dreck ...

Nach dem Bad hüllt man das Kind in ein Badetuch und nimmt es fest in den Arm. Nach einem ruhigen Moment kann man es langsam und flächig abtrocknen, damit es auch wieder Zeit hat, sich der veränderten Situation anzupassen. Wenn das Zimmer warm ist und alles griffbereit liegt, kann man es vielleicht auch auf dem Schoß abtrocknen und anziehen ( die Füße auf einen Hocker stellen). So kann das Kind die Mutter gut spüren und sehen und seine Füße an ihren Bauch lehnen, so daß auch die Mutter die kindlichen Reaktionen sehen und spüren kann - und gerade das ist der liebevolle Dialog!

Wenn ein Säugling Schlafprobleme hat, kann man vielleicht das "Nest" deutlicher gestalten.

Man kann das Kind auch mit nackten Beinen in einen Schlafsack geben oder in ein Moltontuch einschlagen, damit sich das Kind selbst besser spüren kann und zur Ruhe kommt. Und wenn sich ein Kind überhaupt nicht beruhigen läßt und man das Gefühl hat "jetzt habe ich doch wirklich alles ausprobiert!", dann kann man es vielleicht mal ganz ruhig und fest in den Arm nehmen (wirklich ganz ohne Wiegen und Summen) und einfach zeigen "Ich weiß, daß du traurig bist, aber ich bin bei dir!" Manche Kinder brauchen länger, um sich auf einen tröstenden Reiz einzustellen. Wenn man dann z.B. schon wieder vom Wiegen zum Herumtragen wechselt, weil sich das Kind anscheinend nicht beruhigen läßt, kann das zu neuer Verwirrung führen. So kann ein "Ausschalten" aller Reize dem Kind vielleicht eher gerecht werden.

 

 

Nun auch noch ein Nachtrag für ältere Kinder

Inzwischen ist Martin fast 5 Jahre alt und trägt seit einem halben Jahr proprioceptive Schuheinlagen in knöchelhohen Schuhen, die eine biegsame Sohle haben.

Vorher war er mit Nachtschienen (gegen des Spitzfuß) und den üblichen, schweren orthopädischen Schuhen versorgt, die wie Klötze an den Füßen hingen. Als er zum ersten Mal auf den proprioceptiven Schuheinlagen stand, war es wie ein Wunder: Das ganze Laufbild wurde bedeutend lockerer und er hat die Arme nicht mehr seitlich angespannt hoch gehalten. Mit diesen Schuheinlagen lernte er sehr schnell in den Himmel zu gucken, ohne nach hinten zu fallen und ohne meine helfende Hand eine Bordsteinkante alleine hoch zu laufen. Er fühlte sich sicherer, fiel nicht mehr so schnell um und wurde im Kindergarten viel aufgeschlossener im Umgang mit den anderen Kindern.

Wie ist das möglich? Die proprioceptiven Schuheinlagen fördern die Eigenwahrnehmung, die durch die Spastik stark herabgesetzt ist. Sie wurden anhand der Druckpunkte nach Vojta entwickelt und "lösen automatisch Muskelfunktionen aus, die von einem Kind mit cerebralen Bewegungsstörungen spontan nicht ausführbar sind. ... Ferner konnte festgestellt werden, daß die offenbar positiven Wahrnehmungen über die Fußsohle und über die Stellung der Gelenke auch einen günstigen Einfluß auf die Aufrichtung des Rumpfes und die Stellung der Übergeordneten Gelenke (Knie- und Hüftgelenke sowie Becken) hatten." (Zitat von Peter Schick, Orthopädieschuhtechnik 4/99)

Diese Schuhversorgung steckt noch in den Anfängen und ich finde es wichtig, einen Schuhtechniker zu finden, der schon einige Erfahrungen mit diesen Einlagen gesammelt hat - und die weitere Anfahrt dafür in Kauf zu nehmen. Hiermit bietet sich eine schmerzfreie Möglichkeit, das Laufbild zu verbessern. Im Zweifelsfalle würde ich immer dafür plädieren, es wenigstens zu versuchen!

Erwähnen möchte ich auch noch kurz die Behandlung in der Fachklinik mit Botulinum. Das ist ein Medikament, das direkt in den Muskel gespritzt wird und die Spastik hemmt. Mit Hilfe der Krankengymnastik erarbeitet das Kind dann ein neues Bewegungsmuster.
 

 

 

 

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