Die Entwicklung des Denkens

 

Jean Piaget hat, wie in' Abschnitt 6.4.3 ausgeführt, eine sehr umfassende Studie über die geistige Entwicklung des Menschen erstellt. Er teilt die Entwicklung des Denkens in die folgenden fünf Stufen ein:

 

• Stufe der sensumotorischen Intelligenz,

• Stufe des symbolischen und vorbegrifflichen Denkens,

• Stufe des anschaulichen Denkens,

• Stufe der konkreten Denkoperationen und

• Stufe der formalen Denkoperationen.

 

1. Die Stufe der sensumotorischen Intelligenz

 

Diese Stufe erstreckt sich in etwa auf die ersten beiden Lebensjahre. Piaget geht davon aus, dass der Mensch in dieser Zeit noch keine Denkleistungen im Sinne von „innerem Handeln„ vollziehen kann, sondern,dass es sich hier um Denkleistungen im Sinne von Leistungen der Wahrnehmung, der Sinne, gekoppelt mit motorischen Leistungen handelt.

Unter sensomotorischer Intelligenz versteht Jean Piaget die Koordinierung von Wahrnehmungseindrücken mit motorischen Leistungen.

Diese Stufe der sensumotorischen Entwicklung unterteilt Piaget wiederum in sechs Stadien:

1. Stadium: Betätigung der Reflexe  

Ausgangspunkt der sensumotorischen Intelligenz bilden die angeborenen Reflexe wie Greif-, Saug- oder Schluckreflex, die durch Übung in ihren Ausführungen gezielter, kräftiger und sicherer werden.

2. Stadium: Einfache Gewohnheiten

Der Säugling beginnt, einfache, zunächst rein reflektorische Handlungen zu wiederholen.

So führt er zum Beispiel Saugbewegungen aus, auch wenn er satt ist und ruhig in seinem Bettchen liegt, oder er öffnet und schließt immer wieder seine Hände.

Der Säugling verbindet jedoch mit diesen einfachen Bewegungen noch keinerlei Absichten, sie laufen vielmehr gewohnheitsmäßig ab, gleichsam um ihrer selbst willen.

3. Stadium: Aktive Wiederholungen

Der Säugling wiederholt zunehmend solche Tätigkeiten, die zufällig zu einem für ihn interessanten Effekt führen und damit lustbetont sind.

So greift er beispielsweise nach einer Rassel, die - ohne dass er darauf gefasst ist - ein Geräusch verursacht. Überrascht von diesem Effekt seiner Greifhandlung wird dieser unerwartete Effekt lustvoll wiederholt.

4. Stadium: Verknüpfung von Mittel und Zweck

Der Säugling verbindet verschiedene Verhaltensmuster miteinander, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen; es kommt zu ersten Verknüpfungen von Mittel und Zweck.

So wirft das Kind das Kissen aus dem Bett, um dahinter nach einem verborgenen Spielobjekt zu suchen, oder es lässt wiederholt einen Gegenstand fallen, um ihn dabei zu beobachten.

5. Stadium: Aktives Experimentieren

Gegen Ende des ersten Lebensjahres wird das „Neue" interessant. Das Kind beginnt mit einem aktiven Experimentieren in dem Sinne, dass es zur Erreichung eines bestimmten Zieles im Gegensatz zu früher völlig neue Verhaltensweisen ausprobiert. -

Bringt man außerhalb der Reichweite des Kindes eine Glocke an und befestigt diese an einer Schnur, die vom Kind erreicht werden kann, so stellt es verschiedene Versuche an, um die Glocke zu erreichen. Schon bald erfasst es die Beziehung zwischen sich selbst, der Glocke und der Schnur.

6. Stadium: Verinnerlichtes Handeln 

Ab Mitte des zweiten Lebensjahres werden neue Verhaltensweisen nicht mehr nur durch das aktive Probieren mit einem Gegenstand erworben, sondern das Kind kann sich diese von nun an geistig vorstellen. Hier beginnt das Denken im Sinne von „innerem Probehandeln".

Während dieser ersten Stufe des Denkens beginnt bereits das sogenannte Werkzeugdenken des Kindes: Es kann einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Elementen einer Situation herstellen.

Ein ca. zehn Monate altes Kind zieht an der Tischdecke, um das Glas zu erreichen, das auf der Tischdecke steht.

Später kommt es auf die Idee, einen Stuhl an das Regal zu schieben, um die Tafel Schokolade zu erreichen, die auf dem oberen Brett des Regals liegt. Hierzu ist bereits die Fähigkeit des inneren Probehandelns, der inneren Vorstellung, Voraussetzung.

 

2. Die Stufe des symbolischen und vorbegrifflichen Denkens

 

Mit dem Aufkommen von Vorstellungen wird das Kind fähig, zwischen realen und bloß vorgestellten (= symbolischen) Objekten und Situationen zu unterscheiden. Es lernt, dass Personen und Gegenstände auch dann weiterexistieren, wenn sie nicht sichtbar sind.

 

Versteckt man vor den Augen eines etwa sechs Monate alten Kindes die Puppe, die es gerade noch ergreifen wollte, zum Beispiel unter dem Tisch, so kümmert sich das Kind nicht mehr um die Puppe. Es scheint sie vergessen zu haben, die Puppe existiert für das Kind nicht mehr. Befindet sich das Kind jedoch auf der Stufe des symbolischen Denkens, so sucht es nach der Puppe, weil es bereits eine Vorstellung von der nicht mehr sichtbaren Puppe hat und weiß, dass diese noch immer da sein muss.

 

Durch den Erwerb der Sprache wird es möglich, auch sprachliche Symbole zu entwickeln:

Ein bestimmter Begriff tritt als Symbol an die Stelle von Personen, Gegenständen oder Handlungen. Dabei geht es nicht um eine Abbildung der realen Wirklichkeit, das Kind benützt den Begriff entsprechend seinen eigenen Vorstellungen. Das Kind, das ganz alleine „Kaffeeklatsch" spielt, spricht mit nicht vorhandenen Personen oder mit seinen Puppen, die die Rollen der Freundinnen einnehmen. Die kleinen, abgerissenen Stücke einer alten Tapete werden als Kaffeetassen und Teller bezeichnet.

 

Solche Symbole bezeichnet Jean Piaget als Vorbegriffe: Ein Begriff wird entsprechend den Vorstellungen des Kindes aktiv gestaltet und umgestattet. Die Symbole bleiben allerdings auf dieser Stufe an konkrete Gegenstände und unmittelbare Handlungen gebunden.

 

Auf dieser Stufe zeigt sich sehr deutlich die kindliche Auffassung von der Wirklichkeit (vgl. Abschnitt 7.2.1): Gegenstände und Sachverhalte werden vermenschlicht, Vorgänge werden auf einfache Weise zweckgerichtet gedeutet oder magisch „erklärt".

So zum Beispiel lässt das Kind den Vogel auf dem Bild fliegen; die Puppe ist beleidigt, weil sie böse ist; der Teddy schaut froh, traurig oder frech; es schneit, damit die Menschen Ski fahren können.

 

3. Die Stufe des anschaulichen Denkens

 

Das Kind entwickelt im Laufe der Zeit zwar komplexere Vorstellungen und echte Begriffe, und es ist auch fähig, mit Hilfe der Sprache zu denken, doch sein Denken ist auf dieser Stufe sehr an die Anschauung gebunden; es kann nur mit solchen Begriffen und Denkvorgängen etwas anfangen, die anschaulich sind.

So ist einfünfjähriges Kind zum Beispiel noch nicht in der Lage, den Oberbegriff zu „Tasse" zu finden. Statt „Geschirr" wird es etwa sagen, „Eine Tasse ist zum Trinken".

Wegen, dieser Eigenart kann das Kind nur dem sichtbaren Verlauf der Ereignisse folgen, das Denken orientiert sich einzig am anschaulichen Ablauf des Geschehnisses. Das Kind ist nicht imstande, mehrere Aspekte gleichzeitig zu erfassen, es berücksichtigt immer nur einen Aspekt

 

Wird beispielsweise eine Flüssigkeit vor den Augen eines 4-jährigen Kindes von einem breiten in ein schmales Glas umgefüllt, so glaubt es, dass in dem schmalen Glas nun mehr Wasser ist als in dem breiten. Das Kind ist nicht imstande, Höhe und Breite der Flüssigkeit gleichzeitig zu berücksichtigen.

 

Das Kind orientiert sich an einem einzigen Faktor, an dem der sichtbaren Veränderung. Die Möglichkeit, mehrere Aspekte einer Situation gleichzeitig zu berücksichtigen oder aufeinander zu beziehen, bleibt ihm noch verwehrt.

Auch in dieser Stufe zeigt sich die geistige Haltung des Kindes: der kindliche Egozentrismus und Realismus (vgl. Abschnitt 7.2.1).

 

„Kinder (, ..) sind nicht in der Lage, die Perspektive eines anderen Menschen zu übernehmen. (...) Das Kind ist zunächst nicht imstande, sich vorzustellen, dass ein Haus oder eine Landschaft für eine andere Person mit einem anderen Stand- und Blickpunkt anders aussieht als für es selbst. Es nimmt auch ganz selbstverständlich an, dass andere Personen über dasselbe Wissen verfügen. Deshalb sind Kindererzählungen oft schwer verständlich, weil das Kind z. B. davon ausgeht, dass der Gesprächspartner weiß, wer mit „er“ und was mit „das“' gemeint ist. Dieser Egozentrismus (...) muss langsam und mühsam überwunden werden."(Werner Herkner, 1992)

 

 

 

 

 

4. Die Stufe der konkreten Operationen

 

Auf dieser Stufe kann sich das Kind nun in Gedanken auch wechselseitige Beziehungen von Gegenständen oder Sachverhalten vorstellen. Diese Vorstellung ist unabhängig von seiner Wahrnehmung.

So kann das Kind erkennen, dass die Menge eines kleinen, aber dicken Gefäßes dieselbe ist wie die eines größeren, dafür aber dünneren Gefäßes.

Das Denken wird also unabhängig von der Wahrnehmung des Kindes, ist jedoch immer noch an konkrete Sachverhalte gebunden, obwohl sich das Kind geistig vom momentanen Geschehen distanzieren kann. Das egozentrische Denken verschwindet, historisches und schlussfolgerndes Denken werden möglich, und das Kind wird fähig, Oberbegriffe zu bilden.

Im Hinblick auf rechnerische Fähigkeiten fallen in diese Zeit zuerst die Fähigkeit zu addieren, dann zu multiplizieren (ca. ab dem 7. Lebensjahr). Im Übergang zur Stufe der formalen Operationen erwirbt das Kind schließlich auch die Fähigkeit zu dividieren.

 

5. Die Stufe der formalen Operationen

 

Diese Zeit beginnt ca. ab dem 12. Lebensjahr und ermöglicht dem Jugendlichen:

• über vorgegebene Informationen hinauszugehen,

• Hypothesen zu bilden,

• zu abstrahieren,

• theoretische Regeln aus anschaulichen Gegebenheiten abzuleiten (induktives Denken),

• aus einer allgemeinen Regel auf einen konkreten Sachverhalt zu schließen (deduktives Denken),

• durch systematisches Ausprobieren und Erstellen aller Möglichkeiten bei einem Problem eine

Variablenkontrolle zu erarbeiten,

• über das Denken selbst nachzudenken (Metadenken).

 

 

Das egozentrische prälogische Denken des Kleinkindes

 

Über den Weg des Kindes zur Bewältigung des euklidischen Raumes hat PMET interessante Versuche angestellt. Die Kinder mussten 3 verschiedene Modellberge, die auf einer Platte aufgebaut waren und durch verschiedene Markierungspunkte (Haus, Kreuz) gekennzeichnet waren, aus Position A betrachten. Die Aufgabe bestand darin, an Hand von entsprechenden Abbildungen anzugeben, wie man diese Berge sehen würde, wenn man sich in den Positionen 8, C und D befände. Es zeigte sich, dass eine solche Aufgabe für ein Kind unter 7 Jahren in der Regel unlösbar ist. Während das Kind ohne Schwierigkeiten Gegenstände in verschiedensten Positionen identifiziert, ist es nicht in der Lage, sich vorzustellen, wie man einen Gegenstand aus einer anderen Stellung als der, die man eben einnimmt, sehen könnte.

 

PIAGET ist der Meinung, dass das egozentrische prälogische Denken dem Aufbau des euklidischen Raumes im Wege steht. Das Kind ist nicht in der Lage, sich vorzustellen, dass Objekte auch einen anderen Aspekt haben könnten als den, der ihm als dem Beschauer zugekehrt ist. Es bezieht alle Wahrnehmungsgegenstände auf sich selbst.

 

Kinder zwischen 4 und 7 Jahren sollen Flüssigkeit in die Schemata verschieden gelagerter Flaschen zeichnen. 4-jährige zeichnen überhaupt nur die Kategorie des Eingeschlossenseins der Flüssigkeit (a). Aber auch ältere Kinder haben, wie wir in b und c sehen, bei dieser Aufgabe noch beträchtliche Schwierigkeiten. Auch das Verständnis für Zeit, Geschwindigkeit, Alter und Menge unterliegt der prälogischen Struktur des Denkens, die es dem Kind vorerst unmöglich macht, mehr als eine Dimension der Wirklichkeit zu beachten. Seine Dimensionsbeobachtungsbereischaft erstreckt sich einzig und allein auf die sichtbare Veränderung.