Ist Kindheit doch Schicksal?

 

Ein Gespräch mit den Wissenschaftlern Karin und Klaus Großmann  über die langfristigen Folgen, die eine unsichere Bindung in der Kindheit  haben kann

 

Die psychoanalytische Annahme, daß frühe Kindheitserlebnisse die psychische Entwicklung eines Menschen beeinflussen, wird von einigen Psychologen heftig kritisiert. Sie warnen vor einer Überbewertung der Kindheit, nicht zuletzt deshalb, weil die Psychoanalyse keine wissenschaftlichen Beweise für ihre Annahmen vorlegen kann. Doch inzwischen wurden von einer Gruppe von Psychologen und Klinikern eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt, die in beeindruckender Weise belegen: Die Bedeutung einer konstanten, verläßlichen und einfühlsamen Bezugsperson in den ersten Lebensjahren kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Begründer dieser Forschungsrichtung, der Bindungstheorie, waren vor allem Mary Ainsworth und John Bowlby, die ihre wesentlichen Forschungsarbeiten bereits in den 60er Jahren veröffentlichten. Ausgehend von diesen Studien begannen die Wissenschaftler Karin und Klaus Großmann, entsprechende Bindungsstudien auch in Deutschland durchzuführen. Ihre Langzeitstudie mit Kindern im Alter von ein, fünf und zehn Jahren erbrachte eindeutige Ergebnisse: Erfahren Kleinkinder keine stabile Bindung an einen Erwachsenen, dann werden diese negativen Erfahrungen verinnerlicht und können die weitere Entwicklung der Kinder - bis hinein ins Erwachsenenleben - negativ beeinflussen.

 

Psychologie Heute. Sie beschäftigen sich seit vielen Jähren mit der Frage, wie in der frühen Kindheit Bindung entsteht und wie sich die Qualität dieser Bindung auf die gesamte Entwicklung eines Menschen auswirken kann. Dabei haben Sie in Ihren Forschungsarbeiten empirisch untersucht, ob Kinder in ihren Eltern sichere Bezugspersonen haben. Kann so etwas

Diffiziles wie Bindung überhaupt mit wissenschaftlichen Methoden erfaßt werden?

 

Karin Großmann: Wir begannen mit unseren Studien Mitte der 70er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt waren nur die Untersuchungen von Rene Spttz und John Bowlby bekannt wonach Kinder in Heimen in ihrer Entwicklung behindert sind; sie haben Lernschwierigkeiten, sind eher mißtrauisch und sie tun sich schwer damit, zuverlässige Bindungen zu anderen aufzunehmen.  Aber es bleibt die Frage offen: Was hat es mit der engen Eltern-Kind-Bindung in einer ganz normalen Familie auf sich? Also in Familien, in denen die Eltern durchaus für die Kinder da sind, in denen es aber Unterschiede in bezug auf Herzlichkeit, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse der Kinder gibt.

 

Neugeborene brauchen enge Bindungen

 

Wir fingen dann nach dem Modell von Mary Ainsworth an, in Familien Vorversuche zu machen. Zum damaligen Zeitpunkt waren in Deutschland Beobachtungen direkt in Familien noch völlig unbekannt. Ich ging damals alle vier Wochen zu den Familien und habe erforscht: Was erzählen mir, die Mütter, was kann ich sehen, welche Rolle spielt der Vater, wie empfinden es die Mütter, daß ich ihnen so viele Fragen stelle? Diese Vorversuche ermutigten uns, die Fragestellung doch etwas systematischer anzugehen. Wir waren nun sicher: Das besondere Verhältnis zwischen Eltern und Kleinkindern läßt sich aufgrund von Beobachtungen quantifizieren.

 

PH: Wie laufen diese Beobachtungen konkret ab, anhand welcher Kriterien wird beurteilt?

 

Karin -Großmann: Dazu muß man etwas von dem theoretischen Hintergrund wissen. Von der

Theorie her heißt es, daß Neugeborene, auch Tiere, enge Bindungen brauchen, um geschützt, um versorgt zu werden, und um die sozialen Spielregeln der Gemeinschaft zu erlernen. Im Prinzip kann man davon ausgehen, daß die Eltern die Bereitschaft dazu haben, aber umgekehrt ist es ganz wichtig, daß das Kind Fähigkeiten und Verhaltensweisen besitzt, die diese Fürsorge und Lehrbereitschaft der Eltern auslösen. Und das sind die sogenannten Bindungsverhaltensweisen. Das wichtigste Signal ist natürlich das Weinen. Ein Vorstadium noch vor dem Weinen ist das Rufen. Ein Säugling kann durch „Kontaktlaute", wie man dieses

Rufen bei den Tieren nennt, auf sich aufmerksam machen, um herauszufinden, ob die fürsorgende Person nahe ist. Später kann das Kind dem Erwachsenen selbständig nachfolgen, um die Bindungsperson zu erreichen und - was auch wichtig ist -, es protestiert mit etwa sechs, sieben Monaten wenn es von der vertrauten Person verlassen wird. Diese Verhaltensweisen - Rufen, Weinen, Nachfolgen, Anklammern und Protestieren beim Verlassen-Werden - die man Bindungsverhaltensweisen nennt; äußern die Kinder spontan, immer dann, wenn sie die Zuwendung der Erwachsenen brauchen. Nun kann man ganz konkret beobachten: Wann zeigt das Kind diese Verhaltensweisen, welche Verhaltensweisen zeigt es noch - zum Beispiel: Wie erkundet es seine Umwelt? - und wie reagiert die fürsorgende Person darauf? Das kann die Mutter oder der Vater sein„ aber in unseren Studien waren es fast ausnahmslos Mütter. Bei der Beobachtung, wie die Eltern reagieren, kommt es auch darauf an, wann sie reagieren. Wie lange braucht die Mutter, bis sie sich um das Kind kümmert? Wie tröstet sie es, ist sie dabei geduldig, ist sie ärgerlich, möchte sie das Kind ablenken? Oder was tut sie, wenn das Kind ihr nachfolgt, findet sie das lästig und sagt „Spiel doch lieber alleine" oder akzeptiert sie es? Auch das Trennungsweinen wird sehr unterschiedlich beantwortet. Manche Mütter reagieren im Sinne von „Du mußt lernen, allein zu sein" oder „Du hast doch noch deine Geschwister oder jemand anderes ist noch bei dir" und wieder andere bedeuten ihrem Kind: „Ich weiß, daß du mich vermißt, laß uns mal sehen, wie wir die Trennung besser gestalten können.

 

Gespielte Unabhängigkeit

 

Klaus Großmann: Die Grundannahme der Bindungstheorie ist, daß ein Kind lernen muß, eine ungeheure Vielzahl von neuen Eindrücken zu verarbeiten. Das Kind muß also Neugierde zeigen, um neue Reize zu erkunden. Neugierde ist aber auch eine äußerst anstrengende Angelegenheit, weil das Kind nie weiß, wie seine Erkundungen ausgehen werden. Die Bindungsperson stellt für das Kind dabei eine Art Sicherheitsbasis dar, von der geht es aus, und zu der kehrt es immer dann zurück, wenn die Verunsicherung die Neugier übertrifft. Das ist der Kern der Theorie: Wenn das Kind mit entwicklungsspezifischen Aufgaben gefordert ist, die natürlich im Säuglingsalter etwas anders aussehen als im Kleinkindalter, dann braucht es Sicherheit, die im späteren Leben zu Selbstsicherheit wird, 'die es aber am Anfang erst erwerben muß. Bei diesem Erwerb ist es absolut angewiesen auf die biologisch vorgesehene Sicherheitsbasis, also auf seine Bindungsperson.

 

PH: Sie haben bereits bei 12 Monate alten Kleinkindern beobachten können, daß diese Sicherheitsbasis bei manchen nicht optimal vorhanden war.

 

Klaus Großmann: Wir haben dies mit der Methode der „Fremden Situation" festgestellt. Dabei verläßt die Mutter für kurze Zeit den Raum und wir beobachten, welche Auswirkungen das auf das einjährige Kind hat und wie es reagiert, wenn die Mutter nach kurzer Zeit wiederkommt. Diese kurzeTrennung wird dann nochmal wiederholt, wobei beim zweiten Mal

vor der Rückkehr der Mutter eine fremde Person zum Kind ins Zimmer geht, um sicherzugehen, daß es wirklich auf die Mutter ankommt und nicht darauf, daß irgend jemand zurückkommt. Um das Verhalten der Kinder genau beobachten zu können, zeichneten wir diese Situation auf Video auf. In Einzelbildauswertung konnten wir dann die Reaktion des Kindes ganz genau analysieren. Wie sich herausstellte, gibt es da große Unterschiede. Mehr als die Hälfte der von uns untersuchten Kinder stellten sich als „sicher gebunden" heraus: wenn sie allein sind, vermissen sie deutlich ` ihre Mutter - und sie krabbeln erfreut oder weinend auf die Mutter zu oder empfangen sie, wenn sie schon laufen können, mit erhobenen Ärmchen. Die Mutter nimmt sie dann auf, und das Kind braucht für eine Weile Nähe. Aber kurz darauf ist es auch schon wieder neugierig und erkundet allein oder auf dem Arm der Mutter wieder die Umgebung. Andererseits gibt es Kinder, die tun so, als würden sie ihre Mutter weder vermissen noch bemerken-, wenn sie ins Zimmer kommt. In Wirklichkeit senken sie, wenn sie die Mutter erkennen, den Blick und richten dann ihren Körper so aus, daß sie nicht in Verlegenheit kommen, mit der Mutter Kontakt aufnehmen zu müssen. Wenn uneingeweihte Beobachter diese Videoaufnahmen sehen, dann reagieren die in der Regel - interessanterweise vor allem in Deutschland - positiv. Sie halten es für wunderbar, wie unabhängig diese Kinder sind. Doch das ist ein ganz großes Mißverständnis.

Was als Unabhängigkeit gesehen wird, ist in Wirklichkeit oftmals ein Zeichen unsicherer Bindung. Wir haben zwei Längsschnittuntersuchungen in Nord- und Süddeutschland durchgeführt, um die langfristigen Folgen dieser unterschiedlichen Bindungsqualitäten aufzudecken.

 

Karin Großmann: Ganz wichtig ist dabei die Geschichte dieser Mütter und Kinder. Das einjährige Kind, das auf die zurückkehrende Mutter reagiert, zeigt im Grunde eine Erwartung. Wenn das Kind im ersten Jahr oft erfahren hat, dass die Mutter ärgerlich oder abweisend reagiert, wenn es weint oder die anderen Bindungsverhaltensweisen zeigt, dann traut es sich nicht, diese in einer fremden Umgebung zu zeigen, aus Angst, daß die Mutter es wieder allein lassen wird.. Darum versuchen diese Kinder zu verbergen, daß es ihnen schlecht geht, bis es ihnen allein durch die bloße Anwesenheit der Mutter wieder besser geht. Denn  alle Kinder entwickeln im ersten Jahr eine Bindung zur Mutter, und alle brauchen sie als Sicherheitsbasis in Zeiten von Hilflosigkeit, vor allem wenn sie durch Trennung, verursacht wird. Die unsicher gebundenen Kinder müssen sich allerdings auf die Abneigung ihrer, Mutter gegen ihre Hilfsbedürftigkeit einstellen: Sie wollen möglichst nicht zeigen, daß es ihnen schlecht geht und daß sie die Zuwendung der Mutter brauchen.

 

Wie sichere  Bindung entstehen kann

 

PH: Es ist erschreckend, daß bereits Kleinkinder zu solch einem Verstellungsmanöver fähig sind.

Klaus Großmann: Wir haben das auch erst nicht glauben können. Deshalb haben wir nach einigen Jahren dieselben „fremden Situationen" nochmal analysiert und haben vor allem die erste Trennungssituation mit der zweiten verglichen. Nach der zweiten Trennung ist die Verunsicherung aller Einjährigen natürlich noch größer als nach der ersten. Bei den sicher gebundenen Kindern nimmt nach der zweiten Trennung das Bindungs Kommunikationsverhalten zu: über 90 Prozent der Kinder senden nun Signale, daß sie die Zuwendung ihrer Mutter haben wollen.  Bei den unsicher-vermeidenden Kindern steigt es, vor allem wenn es ihnen trennungsbedingt schlecht geht, von etwa 20 Prozent auf nur etwa 30 Prozent an. Mit anderen Worten: selbst bei intensiver Belastung strengen diese Kinder sich an, keine Signale der Hilfsbedürftigkeit an die Mutter zu richten. Die Theorie sagt: Sie vermeiden dies, aus Angst davor, zurückgewiesen zu werden. Und das konnten wir in unseren Langzeitstudien auch belegen.

 

PH: Wie muß sich die Bezugsperson verhalten, damit ein Kind eine solche Bindung entwickeln kann?

Karin Großmann: Sie muß sich gut in die Lage ihres Kindes versetzen können und Verständnis für seine Bedürfnisse sowohl nach Nähe als auch nach ungestörter Exploration haben. Ein weinendes Kind stellt natürlich Ansprüche. Wenn die Mutter sehr beschäftigt ist, oder wenn sie den Wunsch nach einem anspruchslosen Kind hat, dann ist es ihr im Grunde lästig, das Kind zu trösten. Wenn die Mutter aber akzeptiert und versteht, daß ihr Kind leidet und jetzt Trost, braucht, wird sie ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen und sich erst einmal dem Kind zuwenden. Ein zweites Merkmal von Müttern sicherer Kinder ist, daß sie die Entwicklungsaufgaben des Kindes mit berücksichtigt. In dem Moment, wo das Kind getröstet ist, kann sie dem Kind etwas zum Spielen zeigen und andere Personen mit einbeziehen, so daß das Kind viel lernen und erleben kann, um Fähigkeiten und Kenntnisse zu erweitern. Im Wechselspiel zwischen verläßlichem Trost und ungestörter Erkundung entwickelt das Kind das Bewußtsein eigener Tüchtigkeit aber auch der Hilfsbereitschaft anderer. Es gibt Mütter, die nicht wahrhaben wollen, daß ihr Kind sie braucht und die es zu früh zur Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit erziehen. Es gibt aber auch Mütter, die sich im Grunde selber nach Liebe und Zuwendung sehnen und die sich oft zu sehr an ihre Kinder klammern. Ihre übergroße Fürsorge geschieht mehr aus eigenem Bedürfnis heraus. Diese Mütter versäumen es oft, dem Kind die Chance zu geben, andere Menschen kennenzulernen und sich mit einer Sache länger selbständig auseinander zu setzen. Es ist zum Beispiel auch sehr wichtig, daß Kinder nicht unterbrochen werden, wenn sie sich in etwas vertiefen. Eine Mutter, die sich in ihr Kind einfühlen kann, sieht, wenn es sich intensiv mit einer Sache beschäftigt, daß sie sich nicht einmischen soll. Sie weiß, daß sie dem Kind die Freude am Selber-Tun und Alleine-Kön

nen nicht nehmen darf. Aber wenn das Kind signalisiert, daß es Hilfe oder Trost braucht, dann sind diese feinfühligen Müttef auch bereit, das zu geben. Einfühlsame Mütter lassen sich also vom Verhalten ihres Kindes leiten. Sie wissen genau, wann sie gebraucht werden und wann sie sich zurückhalten sollen.

 

Verinnerlichte Erfahrungen

PH: Ist es ein Kennzeichen von Überbehütung, wenn Mütter nicht in der Lage sind. Zurückhaltung zu üben?

 

Klaus Großmann: Eine überbehütende Mutter tut mehr von sich aus als das Kind verlangt. Optimale Feinfühligkeit bedeutet also, daß die Mutter nur soviel tut, wie das Kind von ihr erwartet. Überbehütung dagegen läßt dem Kind keinen Spielraum für Neugierde. Die Bindungstheorie beachtet ja immer die Balance zwischen Sicherheit und Neugierverhalten.

 

PH: Sie haben die Kinder nicht nur im Alter von 12 Monaten in der „Fremden Situation" erforscht, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt, um festzustellen, ob das früher beobachtete Bindungsverhalten stabil bleibt.

 

Klaus Großmann: Die Stabilitäten sind bei den Mutter-Kind-Paaren recht hoch - fast 80 Prozent änderten ihre Bindungsqualität über einen Zeitraum von fünf Jahren nicht. Bei den älteren Kindern kommt es natürlich auf die altersangemessenen Beobachtungskriterien an, die man auswählt. Wir haben immer nach zwei Richtungen gefragt: einmal wollten wir natürlich prüfen, ob unsichere beziehungsweise sichere Bindungsqualität langfristig erhalten bleibt. Aber wir wollten auch testen, wieweit der Geltungsbereich der Bindungstheorie reicht, welche Rolle noch andere Anpassungsleistungen des Kindes spielen. Unser damaliger Doktorand, Gerhard Süß, hat die Kinder als Fünfjährig, im Kindergarten ' beobachtet, weil wir sie auch mal ohne die nahe Bezugsperson erleben wollten. Der Hauptkern der Bindungstheorie ist, ja, daß die Erfahrungen, die die Kinder im ersten Lebensjahr machen und die zu den unterschiedlichen Bindungsqualitäten führen, verinnerlicht werden. John Bowlby spricht in diesem Zusammenhang von „innen working models", inneren Arbeitsmodellen. Die Beobachter im Kindergarten wussten überhaupt nichts von der Bindungsqualität der Einjährigen; sie haben nur darauf geachtet, wie spielen die Kinder, können sie sich konzentrieren, wie gehen sie mit den anderen Kindern um, welche Konflikte treten auf; wenn Konflikte auftreten, wie gehen sie dann damit um. Dann haben wir die Kindergärtnerinnen danach gefragt, welche Probleme die Kinder ihrer Wahrnehmung nach haben, zum Beispiel Verhaltensstörungen. Und schließlich wurde mit den Kindern noch ein sozialer Wahrnehmungstest durchgeführt. Auf den Bildern waren Kinder zu sehen, die anderen Schaden zugefügt hatten: In einer Situation geschah das unabsichtlich, in einer anderen absichtlich und in einer dritten konnte man es nicht entscheiden. Die Kinder sollten herausfinden was aus Absicht und was unabsichtlich geschah. In all diesen Bereichen waren die Unterschiede statistisch hoch signifikant: Die im Alter von einem Jahr als „sicher gebunden" identifizierten Kinder hatten im Schnitt mehr als doppelt so lange Phasen der Konzentration.

Im Bereich des „Konfliktmanagements" gab es ein ganz erstaunliches Ergebnis. Zwar fanden wir nur einen geringen Unterschied zu der Häufigkeit von Konfliktes doch der Anlaß des Konfliktes war ein anderer: Die sicheren Kinder hatten meist einen Konflikt, wenn es um Selbstbehauptung ging. Wenn sie sich dann behauptet hatten, war der Weg zur Einigung mit dem anderen Kind wieder offen. Sie haben also den Streit selbst beigelegt. Das konnten die unsicher gebundenen Kinder nicht. Sie stritten, aber meistens, weil sie etwas haben wollten. Wenn die Sache für sie nicht gut ausging, dann haben sie sich entweder zurückgezogen oder sie sind zur Kindergärtnerin petzen gegangen. Sie haben statistisch sehr viel seltener als die sicheren Kinder den Streit selbst beigelegt. Manchmal versuchten die, unsicheren Kinder auch anderen, schwächeren Kindern unvermittelt und „böswillig" zu schaden. Dieses komplizierte Gefüge von Gefühlen, das hinter solchen Verhaltensweisen steckt, ist nicht auf den Sachgegenstand gerichtet oder auf den Partner; diese unsicheren Kinder haben Schwierigkeiten, mit den eigenen Gefühlen fertig zu werden, und so kommt es zu solchen

Reaktionen.

 

Wurzeln des Selbstmitleids

 

PH: Sie haben dann diese Kinder als sie 10 Jahre alt waren nochmal untersucht und auch in dieser Altersstufe noch deutliche Unterschiede zwischen sicher und unsicher gebundenen Kindern festgestellt.

Klaus Großmann: Ein weiterer Doktorand, Hermann Scheuerer-Englisch, hat auf der Basis von familientherapeutischen Kenntnissen und, Ergebnissen, die inzwischen aus den USA von Mütterbefragungen vorlagen-, mit diesen Kindern gesprochen. Er hat sie nach ihrem Tagesablauf befragt, über die Schule, über ihre Freunde und nach der Unterstützung durch die Eltern. Wenn es um konkrete Unterstützung ging, daß die Kinder zum Fußball oder zum Klavierunterricht gefahren wurden oder ähnliches, dann konnten keine Unterschiede festgestellt werden. Aber wenn es um ihre persönlichen Beziehungen ging, wenn zum Beispiel gefragt wurde: „Zu wem gehst du, wenn du mal traurig bist?" oder „Wenn du mal mit den Schularbeiten nicht weiter weißt, kannst du dann einen Freund anrufen?" Bei diesen Fragen wurden die unsicher gebundenen Kinder zunehmend wortkarg, kurz angebunden, sprachen ganz leise. Die sicheren Jagegen können klar darstellen, was sie dann tun: Wenn sie zum Beispiel mit einer Freundin ins Kino wollen und die hat keine Lust, dann rufen sie eben eine andere an und gehen mit der. Wenn ein unsicheres Kind von einer Freundin abgewiesen wird, dann geht es mit großer Wahrscheinlichkeit in sein Zimmer, ist traurig, und vergeht gelegentlich vor Selbstmitleid. Selbstmitleid ist im Grund ja ein Baden in negativen Gefühlen, die sich losgelöst haben von zielorientiertem Verhalten.

PH: Eine frühe unsichere Bindung wirkt sich also auf die Entwicklung eines Kindes auch langfristig negativ aus. In Ihren Forschungsarbeiten haben Sie vor allem die Rolle der Mütter,. ihr Ausmaß an Feinfühligkeit untersucht. Muß es denn immer die Mutter sein, die die Verantwortung für die Bindungsqualität trägt?

Karin. Großmann: Im Prinzip kann das auch der Vater oder eine andere enge Bezugsperson sein, die voll verantwortlich, also beständig das Baby versorgt. Aber in der Realität sind es nun mal die Mütter, die sich die meiste Zeit um das Kind kümmern. Bis jetzt konnten erst sehr wenige Väter es mit ihrem Selbstverständnis als Mann vereinbaren, auf Dauer die Rolle des Betreuers zu übernehmen.

PH: Wenn es auch eine andere Bezugsperson sein kann, zu der das Kind eine sichere Bindung aufbaut, heißt das, daß eine frühe Fremdbetreuung aus der Sicht der Bindungsforschung durchaus akzeptiert werden kann?

 

Voraussetzungen  für Fremdbetreuung

 

Karin Großmann: Eine frühere Annahme der Bindungsforschung ist inzwischen überholt: Ein Kind kann sich nicht nur an eine Bezugsperson eng binden, sondern durch aus an mehrere. Wichtig ist, daß das Kind mit seinem Bindungsbedürfnis überhaupt von einer Person wahrgenommen wird. Eine Bindungsperson ist ein Mensch, der für das Kind zugänglich ist, der das Kind tröstet, wenn es traurig ist, der es gut genug kennt, um richtig auf seine Signale zu reagieren, der es unterstützt und versorgt. Der gravierende Fehler, der früher bei Fremdbetreuung oft gemacht wurde und unter dem die Kleinkinder sehr litten, war, daß das Kind von einem Tag auf den anderen in eine fremde Umgebung zu fremden Personen gebracht wurde, ohne daß es seine Sicherheitsbasis dabei gehabt hätte. Das Kind fühlt sich dann von der Mutter in einer fremden Umgebung im Stich gelassen und von ihr zurückgewiesen. Wenn die Mutter aber dafür sorgt, daß das Kind die neue Betreuerin schrittweise kennenlernt, daß es die Betreuerin lieb gewinnen kann und in ihr eine neue Sicherheitsbasis erfährt, dann trennt es sich bald freiwillig von der Mutter und leidet nicht unter der Trennung. Trotzdem bleibt die Mutter die wichtigste Bindungsperson.

 

Zur Bedeutung der frühen Bindungssicherheit für die weiter Entwicklung

 

Karin Großmann. Das ist so eine Art Schneeballeffekt: Die Kinder, die eine frühe verläßliche Bindung hatten, wurden von Kindergärtnerinnen und Lehrern als sympathischer empfunden, sie haben mit diesen Kindern lieber gearbeitet, haben mehr in sie investiert. Dadurch konnten sie vielleicht leichter und mehr lernen. Wenn in bezug auf die. seelische Gesundheit von sogenannten Risikofaktoren gesprochen wird, dann sind damit meist sehr allgemeine Umstände gemeint: Armut der Eltern, Scheidung, Anzahl der Geschwister. Vernachlässigt wird, daß ein Kind, das mit vielen Geschwistern aufwächst, eventuell einen Bruder oder eine Schwester als Bindungsperson haben kann, oder daß zum Beispiel bei Scheidung eine beständige, verläßliche Großmutter für das Kind da sein könnte. Es wird selten berücksichtigt, daß trotz einer für den Beobachter chaotischen Umwelt für., das Kind die Möglichkeit besteht, mit Hilfe einer Person mit diesem Chaos fertigzuwerden.