Moralentwicklung
Bisher haben wir gesehen, wie wichtig es ist, daß man über die ganze Lebensspanne hinweg enge soziale Beziehungen entwickelt. Wir wollen uns jetzt mit einem weiteren psychologischen Aspekt des Zusammenlebens
von Menschen beschäftigen. Es geht um einen Konflikt, den bereits jedes Kind kennenlernt und den Sie selbst wahrscheinlich auch immer wieder erfahren: den Konflikt zwischen den auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse gerichteten egoistischen Motiven und den moralischen Normen und Werten, die die Bedürfnisse anderer Menschen und der Gemeinschaft schützen sollen. Im Laufe der Sozialisation unternehmen Eltern, Lehrer und Erzieher, aber auch die Gesellschaft als Ganzes immer wieder enorme Anstrengungen, um den Heranwachsenden das geltende System von Normen und Werten nahezubringen.
Moralisches Urteilen
Kohlbergs Stufen des moralischen Urteilens
Gegenstand von Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung ist ausdrücklich nicht das moralische Handeln, sondern das moralische Urteilen (oder Argumentieren). Es geht also um die Frage, wie Menschen vorgestellte oder tatsächliche Handlungen unter dem Gesichtspunkt von »gut« oder '»böse« (moralisch richtig oder moralisch falsch) beurteilen. Kohlbergs Theorie knüpft an Überlegungen und Beobachtungen zur Moralentwicklung von Jean Piaget an. Piaget (1983) hatte u. a. versucht, die Entwicklung des moralischen Urteils mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung eines Kindes zu verbinden. Beispielsweise bewerten Kinder je nach kognitiver Entwicklungsstufe die Folgen einer Handlung und die Absichten des Handelnden unterschiedlich (vgl. Abschn. 10.3). Nach Piagets Auffassung ordnet das Kind im Laufe der Zeit, wenn es die Stufen der kognitiven Entwicklung durchläuft, den Konsequenzen einer Handlung und den Intentionen des Handelnden unterschiedliche relative Gewichte zu. Für das präoperationale Kind beispielsweise ist jemand, der zehn Tassen unabsichtlich zerbricht, »unartiger« oder »böser« als jemand, der absichtlich eine Tasse zerbricht. Kinder auf der konkret-operationalen Stufe hingegen messen den Intentionen des Handelnden ein größeres Gewicht bei. Im Beispiel ist also das Kind unartiger, das zwar nur eine Tasse, diese aber absichtlich zerbrochen hat
Kohlberg erweiterte Piagets Ansatz über die Entwicklung im Vor- und Grundschulalter hinaus und kam zu Stufen der moralischen Entwicklung, die sich bis in das Erwachsenenalter erstrecken (s. Tabelle io.8). Er unterscheidet insgesamt 3 Entwicklungsniveaus mit jeweils 2 Stufen, also insgesamt 6 Entwicklungsschritte. (Zeitweise hat Kohlberg auch 5 oder 7 Stufen angenommen.) Auf jedem Niveau liegt dem moralischen Urteil eine andere Sichtweise (soziomoralische Perspektive) des Individuums zugrunde.
• Auf dem präkonventionellen Niveau (vgl. Tabelle io.9) werden moralische Fragen unter dem Gesichtspunkt des individuellen Nutzens beurteilt. Ein Kind im Vorschulalter hält sich z. B. an die Norm, einem anderen Kind nichts wegzunehmen, weil es sonst bestraft würde. Oder es teilt Spielsachen mit einem anderen Kind, weil es hofft, bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls etwas abzubekommen.
• Auf dem konventionellen Niveau werden moralische Angelegenheiten danach beurteilt, inwieweit die Verletzung oder Einhaltung von Normen für das Zusammenleben der Menschen unverzichtbar ist. Beispielsweise muß man Versprechen halten, weil Menschen einander sonst nicht vertrauen können. Oder man muß sich an das Gesetz »Du sollst nicht stehlen« halten, weil dieses Gesetz den Mitgliedern der Gesellschaft die Unversehrtheit des Eigentums garantiert.
• Auf dem postkonventionellen Niveau wird bei moralischen Urteilen eine der Gesellschaft vorgeordnete soziomoralische Perspektive eingenommen. Die Person hat nun individuelle moralische Prinzipien entwickelt, woran sie nicht nur ihr eigenes Handeln mißt, sondern auch beurteilt, ob Gesetze für sie Gültigkeit haben.
Um zu erfassen, auf welcher Entwicklungsstufe sich eine Person befindet, entwickelte Kohlberg die Methode des moralischen Dilemmas. Bei der Dilemmamethode wird dem Versuchsteilnehmer ein Szenario geschildert, bei dem sich ein Protagonist in einer »moralischen Zwickmühle« befindet. Wie auch immer er sich entscheidet, er wird ein moralisches Prinzip zugunsten eines anderen verletzen. Wie der Teilnehmer dieses Dilemma beurteilt, wird in einem ausführlichen halbstandardisierten Interview erfragt.
In einem von Kohlbergs Dilemmata versucht ein Mann namens Heinz für seine todkranke Frau an das einzige Medikament zu kommen, mit dem ihr Krebsleiden erfolgversprechend behandelt werden kann. Der Apotheker, der das Mittel entwickelt hat, möchte dafür aber den zehnfachen Preis dessen, was er an Kosten hineingesteckt hat. Das ist viel mehr Geld, als Heinz sich beschaffen kann. Heinz ist verzweifelt, bricht in die Apotheke ein und stiehlt das Medikament für seine Frau. Durfte er dies tun? Wenn ja, warum? Hätte er auch einbrechen sollen, wenn er seine Frau nicht geliebt hätte? Mit diesen und vielen weiteren Fragen versucht der Interviewer Einzelheiten des individuellen moralischen Urteils zu erfassen.
Für die detaillierte Bewertung der Antworten und die anschließende Einordnung der Person auf den Entwicklungsstufen ist es unerheblich, wie die Person anstelle von Heinz entschieden hätte. Beispielsweise ist es unerheblich, ob sie für oder gegen den Einbruch ist. Worauf es ankommt, sind die Gründe, die dafür genannt werden. Nehmen wir beispielsweise eine Person, die sagt, daß der Mann das Medikament stehlen sollte, weil er seiner Frau gegenüber dazu verpflichtet ist, und nehmen wir eine zweite Person, die die Meinung vertritt, daß er das Medikament nicht stehlen sollte, weil er trotz seiner persönlichen Gefühle den Gesetzen der Gesellschaft verpflichtet ist. Beide Personen bringen zum Ausdruck, daß sie sich an eingegangenen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen oder den Gesetzen orientieren, und werden deshalb auf dem konventionellen Niveau eingestuft.
Ursprünglich hatte Kohlberg angenommen, daß die Entwicklung des moralischen Urteilens stetig fortschreitet. Nicht alle Menschen erreichen jedoch die Stufen 4 bis 6. Tatsächlich gelangen viele Erwachsene nie bis zur Stufe 5, und nur ganz wenige kommen noch weiter. Zudem findet man die höheren Stufen nicht in allen Kulturen, und in westlichen Gesellschaften scheinen sie mit besserer Ausbildung und ausgeprägteren verbalen. Fähigkeiten einlierzugehen. Ausbildung und sprachliche Gewandtheit sollten aber keine Grundvoraussetzung moralischen Handelns sein (Rest u. Thomas 1976).
STUFEN DER ENTWICKLUNG DES MORALISCHEN URTEILENS
Niveaus und Stufen |
Begründung für moralisches Handeln (Einhaltung von Normen) |
Niveau I Präkonventionelle Moral
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Stufe 1: Orientierung an Belohnung und Bestrafung |
Befolgen von Verlangen der Autoritäten
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Stufe 2: Kosten-Nutzen-Orientierung; Reziprozität (»Auge um Auge«)
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Befriedigung der eigenen Bedürfnisse evtl. im Austausch mit anderen
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Niveau II Konventionelle Moral
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Stufe 3: Orientierung an wechselseitigen Erwartungen und Beziehungen
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Anerkennung gewinnen; Kritik vermeiden
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Stufe 4: Orientierung an sozialem System und Gewissen |
Den Regeln gehorchen; den gesellschaftlichen Nutzen beachten
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Niveau III: Postkonventionelle (prinzipiengeleitete) Moral
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Stufe 5: Orientierung am sozialen Vertrag und gesellschaftlicher Nützlichkeit |
Relativierung gesellschaftlicher Regeln unter dem Aspekt der Nützlichkeit für übergeordneten Prinzipien
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Stufe 6: Orientierung an ethischen Prinzipien
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Befolgen von selbst gewählten ethischen Prinzipien |