Kritische und sensible Phasen in der Entwicklung

 

Es gibt in der Entwicklung eines Lebewesens bestimmte Zeiträume, in denen bestimmte Verhaltensweisen dauerhaft festgelegt werden. Außerhalb dieses Zeitraumes können diese Verhaltensweisen nicht mehr geändert werden.

 

Wenn man beispielsweise Hunde bestimmter Rassen unmittelbar nach der Geburt völlig von anderen Hunden und von Menschen isoliert und wenn diese Trennung vierzehn Wochen bestehen bleibt, so ist es nach Ablauf dieses Zeitraumes nicht mehr möglich, die Tiere zu sozialem Verhalten zu erziehen. Sie verhalten sich scheu und ängstlich und können auch nicht mehr zu Hütehunden oder Blindenhunden abgerichtet werden.

 

In dem Zeitraum der ersten vierzehn Wochen eines Hundes wird also das soziale Verhalten eines Hundes festgelegt, welches nach diesem Zeitraum nicht mehr geändert werden kann.

 

Einen solchen Zeitraum, in welchem bestimmte Verhaltensweisen festgelegt werden, bezeichnet man als, kritische Phase.

 

Eine kritische Phase ist ein bestimmter Zeltraum in der Entwicklung eines Lebewesens, in welchem bestimmte Verhaltenswelsen dauerhaft festgelegt werden (beziehungsweise bestimmte Entwicklungen sich grundlegend vollziehen) und deshalb außerhalb dieses Zeitraums nicht mehr geändert werden können.

 

Auch beim Menschen gibt es solche kritischen Phasen. Weil es unmoralisch wäre, menschliche Kinder von normalen Erfahrungen fernzuhalten, stammen Hinweise auf kritische Phasen beim Menschen aus tragischen "Experimenten der Natur". Ein Beispiel ist der "wilde Junge von Aveyron", der offensichtlich bis zu seinem 12. Lebensjahr fern von allen Menschen in der Obhut von Tieren aufgewachsen war. Derartige Fälle zeigen, daß eine unzureichende Ernährung kurz vor der Geburt oder einige Monate danach (also in einer Zeit, in der das Gehirn schnell wächst) z.B. die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigen kann. Ist die Ernährung zu einem späteren Zeitpunkt der Entwicklung unzureichend, tritt dieser Mangel nicht auf.

 

Kinder, die in Einrichtungen mit schwach ausgeprägten Bindungen zu erwachsenen Bezugspersonen aufwachsen, zeigen Aufmerksamkeitsdefizite und soziale Probleme in der Schule, auch wenn sie nach dem 4. Lebensjahr von einer Pflegefamilie adoptiert werden.

 

Alle Eltern können die Beobachtung machen, daß - zur rechten Zeit begonnen - mit wenig Aufwand dem Kind die Kontrolle über die Blasenentleerung oder selbständiges Gehen oder Fahrradfahren beigebracht werden kann. Versucht man das "zu früh", ist es mühsam, langwierig und vielfach zum Scheitern verurteilt.

 

Weitere Beispiele für kritische Phasen in der menschlichen Entwicklung:

 

-  Der Zeitraum In der embryonalen Entwicklung, in welchem sich die Ausbildung und das Wachstum der Organe wie Arme und Beine, Nervensystem und Sinnesorgane vollzieht, gilt als kritische Phase. Erfolgt gerade in den Stunden oder Tagen, in denen sich Arme und Beine entwickeln, eine Störung in der Entwicklung (Einnahme eines Medikamentes oder eine Infektion der Mutter), so unterbleibt oder misslingt die normale Entwicklung dieser Organe. Die Störung ist endgültig und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die betreffende Zeit stellt also für die spezielle Organentwicklung eine kritische Phase dar.

 

-   Psychologische Forschungen haben ergeben, daß eine frühe emotionale Bindung des Säuglings zu einem oder mehreren Menschen die Basis für spätere Beziehungen bildet: Ein Kind, das vor allem im ersten Lebensjahr keine festen Bindungen herstellen konnte, wird auch später in sozialer Hinsicht erheblich benachteiligt sein. Man kann davon ausgehen, daß eine intensive emotionale Beziehung nicht nur für die Ausbildung der Beziehungsfähigkeit bedeutsam ist, die gesamte Entwicklung des Kindes wird beeinträchtigt, wenn sie fehlt. Die ersten Lebensjahre stellen also eine kritische Phase für die Grundlegung der zwischenmenschlichen Bindungsfähigkeit als Basis für den gesamten Lern- und Anpassungsprozeß dar.

 

-   Nach vorliegenden Berichten über sogenannte „verwilderte Kinder" (Kinder, die in der Wildnis oder ohne mitmenschliche Kontakte aufwuchsen), soll es nicht mehr möglich sein, nach dem 12. Lebensjahr menschliche Sprache zu erwerben. Die kritische Phase für das Erlernen der Sprache läge also demnach in den ersten zwölf Lebensjahren.

 

In vielen Phasenlehren wurde ungeprüft angenommen, daß die jeweiligen Voraussetzungen für den Erwerb von Kompetenzen nach einem inneren Bauplan heranreifen und nicht etwa durch Unterricht und Erziehung vermittelt werden können. Dies hat nicht selten eine pädagogische Passivität zur Folge: Man wartet ab, bis der Reifestand erreicht ist, der erfolgreiches Lernen gewährleistet. Sieht man dagegen das Defizit (etwa bei einem Kind die fehlende Schulreife) durch fehlende Erfahrungen und Lernmöglichkeiten bedingt, wird man versuchen, die Lücken zu schließen und die für die Bewältigung des ersten Schuljahres nötigen kognitiven und sozialen Voraussetzungen zu vermitteln.

 

Die traditionellen Phasenlehren schreiben der Umwelt nur die Aufgabe zu, die Entwicklung der Kompetenzen und Motive entsprechend zu unterstützen, also "altersgemäße" Anforderungen und Angebote zu realisieren, sie warnen zugleich vor einer "Verfrühung" oder Überforderung. Dabei werden altersgebundene Veränderungen mitunter als "natürlich" interpretiert, obwohl sie in Wirklichkeit vielleicht Folge ungeprüfter, verbreiteter Überzeugungen sind Ist beispielsweise in einer Kultur die Meinung verbreitet, eine Leistung wie das Lesen sei nicht vor dem sechsten Lebensjahr möglich, so werden Anforderungen und Anregungen entsprechend gestaltet, und ein Kind dieser Kultur wird nicht früher und auch nicht später lesen lernen (dürfen). Im frühen 19. Jahrhundert kannte man die Festlegung der Schulreife auf das sechste Lebensjahr noch nicht, weshalb man auch Vierjährigen schon das Lesen und Schreiben beibrachte. Erst mit der entwicklungspsychologisch begründeten Festlegung eines "Alters der Schulreife" wurden die Lernangebote so ausgewählt, daß Kinder tatsächlich erst mit sechs Jahren Lesen und Schreiben lernten.

 

Die Existenz von kritischen Phasen in der menschlichen Entwicklung wird In der heutigen Wissenschaft in Frage gestellt. Dabei wird die Tatsache bestritten, daß Entwicklungserscheinungen, die in einer kritischen Phase entstanden sind, nicht mehr rückgängig zu machen sind. In der menschlichen Entwicklung sei nichts endgültig festgelegt, dies gelte allenfalls für die embryonale Entwicklung. Aus diesem Grunde bevorzugt man heute den Begriff der sensiblen Phase. Damit sind bestimmte Zeiträume gemeint, in welchen bestimmte Verhaltensweisen nachhaltig beeinflußt werden, die außerhalb dieses Zeitraumes zwar schwierig, aber bis zu einem gewissen Grad wieder verändert werden können.

 

Eine sensible Phase ist ein bestimmter Zeitraum In der Entwicklung, in welchem das Lebewesen für den Erwerb von bestimmten Verhaltenswelsen besonders empfänglich ist, die außerhalb dieses Zeitraumes zwar schwierig, aber bis zu einem gewissen Grad wieder verändert werden können.

 

Eine sensible Phase ist eine Zeit, in der man empfindlich auf bestimmte äußere Reize reagiert und in der ein Organismus optimal darauf vorbereitet ist, ein bestimmtes Verhalten zu erlernen.

 

Die Bedeutung des Begriffes sensible Phase ist umfassender als die der kritischen Phase. Während nach einer kritischen Phase das in dieser Phase festgelegte Verhalten nicht mehr geändert werden kann, ist bei sensiblen Phasen eine Einwirkung auf die in diesem Zeitabschnitt erworbene Verhaltensweise auch außerhalb dieser Phase möglich. In einer sensiblen Phase ist der sich entwickelnde Organismus lediglich besonders empfänglich gegenüber Einflüssen bestimmter Art .

 

Kritische Phase:           Sensible Phase:

 

Bestimmter Zeitraum in der Entwicklung eines Lebewesens,

in welchem bestimmte Verhaltensweisen

 

dauerhaft festgelegt werden                   nachhaltig beeinflusst werden,

 

die außerhalb dieses Zeitraumes

 

nicht mehr geändert                             nur schwierig geändert

 

werden können.

 

 

Beispiele für sensible Phasen In der menschlichen Entwicklung-

 

-          Die Zeit der Reinlichkeitserziehung beeinflußt nachhaltig die Einstellung des Kindes zu sich selbst und zu seinem Körper sowie zu dem, was ihm gehört. Je nachdem, wie die Reinlichkeitserziehung verläuft, werden unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale grundgelegt.

-          Das zweite und dritte Lebensjahr (Autonomiealter, im Volksmund Trotzalter" genannt) kann als sensible Phase für Selbständigkeit und Autonomie gelten.

-          Aus der Sicht der Psychoanalyse stellt das vierte und fünfte Lebensjahr eine sensible Phase dar, in der die Einstellung des Kindes zur Sexualität nachhaltig beeinflußt wird.

-          Auch für bestimmte Begabungen wie beispielsweise Intelligenz, Lernfähigkeit oder Musikalität soll es in der frühen Kindheit sensible Phasen geben, die jedoch erst noch genauer erforscht werden müssen.

 

Häufig wird auch die gesamte Kindheit als eine besonders sensible und verletzliche Phase angesehen, in der ungünstige Erfahrungen traumatisch wirken und nachwirken. So könnten beispielsweise fehlende Kompetenzen für den Umgang mit Gefahren oder die fehlende Unterscheidung von Realität und Irrealem (Traum, Märchen, Phantasie mit angsterzeugendem Gehalt) die Kindheit zu einer sensiblen Phase für die Entstehung von Ängsten machen. Die Stabilität von Ängsten kann man dann lernpsychologisch damit erklären, daß sie zu zuverlässigen Vermeidungen der angstauslösenden Objekte und Situationen führen: Wer auf Dauer die Realität vermeidet, kann auch nicht erfahren, daß die Angst unberechtigt ist.

Auch wer in der Kindheit gelernt hat, seinen Mitmenschen mißtrauisch zu begegnen und das Risiko einer engen emotionalen Bindung an andere zu vermeiden, mag auch seine künftigen Sozialbeziehungen nach diesem Muster aufbauen. Daß er mit dieser Haltung immer wieder abweisenden Reaktionen seiner Mitmenschen begegnen wird, wird für ihn kein Anlaß zum Umlernen sein, sondern eher eine Bestätigung seiner Grundhaltung bedeuten.

 

Kritische und sensible Phasen haben eine wichtige Bedeutung für die Erziehung: Der Erzieher muß um kritische und sensible Phasen in der Entwicklung des Kindes wissen und die optimalen Lernbedingungen für die Entstehung von bestimmten Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmalen In diesen Zeitabschnitten nützen. Fälle, in denen ein Lernprozess noch nicht bzw. nicht mehr vollzogen werden kann, sollten vermieden werden.