Sozialisation und sozial-emotionale Entwicklung in der Kindheit

 

Eltern bemühen sich mehr oder weniger ausdrücklich auch darum, dem Kind die Konventionen, Normen und Werte, die Fähigkeiten, Überzeugungen und Motive, die in der Gesellschaft mehr oder weniger verbindlich sind, zu vermitteln. In diesem Sinne trägt die Erziehung im Elternhaus zur Sozialisation des Kindes bei. Die Eltern sind aber nur eine Sozialisationsinstanz unter vielen, wenn auch die wichtigste. Daneben gibt es noch andere Personen - Verwandte, Freunde, Lehrer usw. - und eine Reihe von Institutionen - Kindertagesstätte, Kindergarten, Schule - die intentional oder »beiläufig« auf -das Hineinwachsen von jungen Menschen in die Gesellschaft Einfluß nehmen.

Die Eltern sind - wenigstens im zeitlichen Sinne - die allerersten »Sozialisationsagenten«. Wie auch immer das familiäre Umfeld des Kindes beschaffen sein mag - ob es sich etwa um eine alleinerziehende Mutter oder um eine Mehrgenerationenfamilie handelt - es ist die Familie, die die grundlegenden Interaktionsmuster und Haltungen für den Umgang mit anderen Menschen prägt. Diese Muster und Haltungen sind, wie wir unten in diesem Abschnitt sehen werden, die Grundlage beständiger Beziehungsstile, die noch Jahrzehnte später im Erwachsenenalter bestimmen, wie jemand an Beziehungen herangeht.

 

Bindung

 

Babys sind von Anfang an gesellig. Das erkennt man etwa daran, daß sie sich lieber menschliche. Gesichter als die meisten anderen Wahrnehmungsmuster ansehen (Fantz 1963). Schon im Alter von einer Woche können manche Babys die Stimme der Mutter von den anderen Frauen unterscheiden. Nach einer weiteren Woche können sie die Stimme und das Gesicht der Mutter als Bestandteil einer größeren Einheit wahrnehmen und geraten aus der Fassung, wenn in1 Experiment das Gesicht der Mutter mit einer fremden Stimme gekoppelt wird (Carpenter 1973).

 

" Babys senden an Menschen, die ihnen gegenüber Zuneigung empfinden und deshalb aufmerksam sind, Botschaften aus, und sie lernen aus den Rückmeldungen der Interaktionspartner. Aber nicht nur die Verhaltensweisen von Eltern und Säuglingen sind aufeinander abgestimmt, auch ihre Gefühle stehen im Einklang miteinander (Fogel 1991). So lacht ein i Monat altes Baby möglicherweise, wenn Seine Mutter lacht, Lind es runzelt die Stirn oder weint, wenn die Mutter traurig ist (Tronick et al. 1980; s. auch Abb. 10.13). Diese Fähigkeit zur wechselweisen Anpassung in der Mutter-Kind- oder der Vater-Kind-Dyade ist lebenswichtig. Sie garantiert z. B., daß die Bezugspersonen angemessen auf die Bedürfnisse des Säuglings reagieren.

 

Bisher haben wir die sozialen Fähigkeiten beschrieben, die allen Neugeborenen gemeinsam sind. Denkt man an die Ausführungen zur Bedeutung individueller Unterschiede in Abschnitt 10.1 zurück, so kann es nicht überraschen, daß es auch in den Merkmalen, die in sozialen Beziehungen und Interaktionen zum Tragen kommen, schon von Geburt an einige individuelle Unterschiede gibt. Kagan und Mitarbeiter haben gezeigt, daß 10-15% der Säuglinge entweder »von Anfang an schüchtern« oder »von Anfang an mutig« sind (Kagan u. Snidman 1991; Kagan et al. 1988). Schüchterne und wagemutige Babys unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Empfindlichkeit gegenüber körperlicher oder sozialer Stimulation. Das schüchterne oder ängstliche Baby läßt sich leichter erschrecken und reagiert weniger intensiv im sozialen Bereich. Aber wahrscheinlich werden sich seine Bezugspersonen ihm gegenüber beim Spiel und anderen Interaktionen zurückhaltender zeigen, als das bei einem mutigen Säugling der Fall wäre.

 

Auf diese Weise verstärken Interaktionspartner die anfängliche Disposition des Kindes. Diese Disposition (oder »Konstitution«) maß jedoch nicht ein für allemal  zum Schicksal werden. Allgemeine Erfahrung und besondere Formen der Unterstützung beeinflussen in starkem Maße, inwieweit konstitutionelle Faktoren zum Ausdruck kommen.

 

Außer in Extremfällen (schwere geistige Behinderung mit einem Entwicklungsstand unter 6 Monaten, schwerster Hospitalismus) bilden alle Kinder personbezogene Bindungen aus, vorausgesetzt, sie haben ein Minimum an Interaktionsmöglichkeiten mit einem Partner. (Dies kann u.U. sogar ein anderes Geschwister oder gar ein Tier sein). Dies gilt auch für Kinder, die von ihren Bezugspersonen mißhandelt werden. Allerdings unterscheiden sich Kinder je nach ihren Vorerfahrungen - und möglicherweise auch je nach Temperamentsdisposition - in der Qualität ihrer personbezogenen Bindung.

 

Die Qualität der Bindung

 

Entwicklungspsychologen sind im allgemeinen der Auffassung, daaß eine feste Inndung günstige Auswirkungen von großer Reichweite und Dauer hat. Sie stellt eine Art psychologisches »Basislager« (»home base«) dar, von dem aus das Kind die materielle und soziale Umwelt erkunden kann. Eine feste Bindung an Erwachsene, die verläßliche soziale Unterstützung bieten, versetzt das Kind in die Lage, eine ganze Reihe unterschiedlicher prosozialer Verhaltensweisen zu lernen, Risiken einzugehen, sich in neuartige Situationen vorzuwagen sowie Intimität in persönlichen Beziehungen zu suchen und zu akzeptieren.

 

Doch die Entstehung einer sicheren Bindung ist nur eine Möglichkeit, keine Selbstverständlichkeit. Um verschiedene Bindungsqualitäten zu beobachten, entwickelten Mary Ainsworth und Mitarbeiter ein spezielles Beobachtungsverfahren, den sog. Fremde-Situation-Test (»strange situation test«; Ainsworth et al. 1978). Er ist für Kinder im Alter von etwa 1-z Jahren geeignet.

 

Der Fremde-Situation-Test nach Ainsworth

 

In einem durch Einwegscheiben beobachtbaren Raum mit Spielzeug und zwei Stühlen finden nacheinander die folgenden acht dreiminütigen Episoden statt:

 

1. Mutter und Kind werden vom Beobachter in den Raum geführt. Mutter setzt Kind auf den Boden.

2. Mutter und Kind sind allein. Mutter liest Zeitschrift. Kind kann die Umgebung und die Spielzeuge

erkunden.

3. Eine Fremde tritt ein, setzt sich, unterhält sich mit der Mutter und beschäftigt sich auch mit dem

Kind.

4. Mutter verläßt unauffällig den Raum, Fremde bleibt mit dem Kind allein, beschäftigt sich mit ihm und

tröstet es, wenn notwendig.

5. Mutter kommt wieder, Fremde geht. Mutter und Kind sind allein. Mutter beschäftigt sich mit dem

Kind und versucht, es wieder für das Spielzeug zu interessieren,

6. Mutter verläßt mit Abschiedsgruß den Raum und läßt Baby allein.

7. Fremde tritt ein. Versucht Kind zu trösten, wenn notwendig.

8. Mutter kommt wieder und Fremde verläßt den Raum.

 

Die 4., 6. und 7. Szene können notfalls verkürzt werden; die Mutter, die das Geschehen durch die Einwegscheibe beobachten kann, entscheidet im allgemeinen über die Dauer. In die Auswertung der Fremden Situation wird das Verhalten des Kindes v.a. in den Szenen 5  und 8 verwendet und auf vier siebenstufigen Skalen eingeschätzt: Nähe-Suchen, Kontakthalten, Widerstand gegen Körperkontakt und Vermeidungsverhalten. Aus den Werten auf diesen Skalen und dem Gesamteindruck vom Kind in der Testsituation wird die Qualität der Bindung den Bindungsklassen A, B, C und ihren Unterklassen zugeordnet.

 

Bowlby und Ainsworth unterscheiden zwischen sicherer und unsicherer Bindungsbeziehung. Kinder mit sicherer Bindungsbeziehung (B-Kinder) suchen und wahren bei oder nach Belastungen Nähe und Kontakt zur Mutter. Wenn sie allein gelassen sind, zeigen zunächst kaum Kummer (sie scheinen darauf zu vertrauen, daß sie gleich wiederkommt); wenn sie aber Kununer ausdrücken, dann ist deutlich erkennbar, daß sie die Mutter vermissen; die Fremde vermag sie in dieser Situation nicht zu trösten. Bei Wiederkehr der Mutter begrüßen sie sie mehr als nur beiläufig und haben mehr Interesse an der Mutter als an Interaktion mit der Fremden oder den Spielsachen. Wenn die Mutter sie aufnimmt, zeigen sie keinerlei Widerstand gegen diesen. engen Kontakt, sondern entspannen in ihren Armen.

 

Innerhalb der unsicheren Bindungsbeziehungen unterscheidet Ainsworth zwischen zwei verschiedenen Typen unsicherer Bindung, dem vermeidenden Typ (A-Kinder, avoidant-insecure) und dem ambivalenten Typ (C-Kinder, ambivalent-insecure).

 

Kinder mit vermeidend-unsicherer Bindungsbeziehung (A-Kinder) zeigen, alleingelassen, kaum Kummer über das Weggehen der Mutter, bestenfalls nur Unmut über sein Alleinsein. Mutter und Fremde behandeln sie fast gleich. Sie ignorieren die Mutter bei ihrer Rückkehr oder "grüßen" sie nur beiläufig; manche wenden sich sogar ab, meiden ihre Nähe in auffallender Weise oder bewegen sich an der Mutter vorbei., Sie scheinen die Nähe zur Mutter nicht zu suchen. Wenn die Mutter sie aufnimmt, widersetzen sie sich zwar nicht, sie schmiegen sich aber auch nicht entspannt an wie die B-Kinder: Auch wehren sie sich nicht dagegen, wieder abgesetzt zu werden.

 

Kinder mit ambivalent-unsicherer Bindung. (C-Kinder) zeigen ihren Kummer deutlich . und lautstark, z.T. wütend, wenn sie alleingelassen sind. Wenn die Mutter zurückkehrt, verhalten sie sich allerdings sehr ambivalent: einerseits suchen sie den Kontakt der Mutter, andererseits widerstreben sie auch auffallend ihren Kontakt- und Interaktionsversuchen, besonders bei ihrer zweiten Wiederkehr (Episode 8).

 

Diese Einteilung - insbesondere die grobe Einteilung in sicher und unsicher gebundene Kinder - hat sich als wertvoll erwiesen, wenn es darum ging, das spätere Verhalten eines Kindes in einer großen Vielfalt von Situationen vorherzusagen. So haben Längsschnittuntersuchungen ergeben, daß sich Kinder, die mit 15 Monaten im Fremde-Situation-Test als sicher oder als unsicher gebunden diagnostiziert worden waren, sich auch mit 3 % Jahreh im Kindergarten deutlich voneinander unterschieden (Waters et al. 1979). Beobachter, die die zuvor erfaßte Bindungsqualität nicht kannten, stuften die Kinder mit sicherer Bindung auf Dimensionen wie »schlägt Aktivitäten vor«, »andere Kinder wollen mit ihnen zusammen sein« öder »lernt gerne neue kognitive Fähigkeiten« als entschieden kompetenter ein. Ähnlich positive Effekte der sicheren Bindung in der frühen Kindheit konnten auch im Alter von 4-5 Jahren (La Freniere u. Sroufe 1985) und von 1o Jahren (Urban et al. 1991) festgestellt werden. Das weist darauf hin, daß die mit dem Fremde-Situation-Test ermittelte Bindungsqualität tatsächlich eine langfristige Wirkung hat.