Vorgeburtliche Entwicklung

 

Drei wesentliche Entwicklungsprinzipien charakterisieren die Gehirnentwicklung; sie gelten auch als Modell für andere Entwicklungsbereiche.

 

(1) Ein erstes Prinzip ist, daß die verschiedenen Hirnbereiche, aber auch die-Sinnesorgane und ihre Teilfunktionen, sich nach unterschiedlichen Zeitplänen (heterochron) entwickeln strikte Synchronizität ist eher ungewöhnlich und "unbiologisch".

 

(2) Das zweite Prinzip besagt, daß Entwicklung sowohl Zunahme wie Abnahme und Selektion bedeutet. Auch in der vorgeburtlichen Phase vermehren sich Nervenzellen nicht nur, sie sterben auch in großer Zahl ab. Nach einer Phase der Überproduktion werden die funktionsnotwendigen Zellen ausgelesen; die überzähligen Zellen (bzw. später Dendriten und Synapsen) werden eine Zeitlang "vorgehalten" und dienen der Korrektur und Ausbesserung ("Plastizität des Gehirns"); werden sie nicht benötigt, dann sterben sie ab.

 

(3) Ein drittes Prinzip besagt, daß sich Gehirn und Sinnesorgane zunächst unabhängig voneinander entwickeln und die Hirnentwicklung zunächst nicht auf Stimulation über die Sinnesorgane angewiesen ist. Die Verschaltung von Gehirn und Sinnesorganen findet - mit leicht abweichenden Angaben bei verschiedenen Forschern und für verschiedene Sinnesbereiche - zwischen der 25. und 37. Gestationswoche statt. Erst dann sind die neurophysiologischen Grundlagen für Lernen über die Sinnesorgane gelegt. Dieses "Lernen" dient, so die Entwicklungsneurologen, vorwiegend der Feinabstimmung der Synapsen und nicht dem Erlernen spezifischer Inhalte oder Grunderfahrungen. Aber selbst wenn die Sinnesorgane schon vor der Geburt prinzipiell funktionsbereit sind, heißt es nicht, dass sie auch vor der Geburt überexterne Stimuli aktiviert werden (z.B. die visuelle Wahrnehmung). Einige Sinnesorgane scheinen spontane Impulse an das Gehirn zu senden, die vermutlich der sensorischen Differenzierung dienen. Andere Sinnesorgane (z.B. Gehör und Geschmack, Tast- und Berührungssinne) erhalten, wenn auch in eingeschränkter oder gedämpfter Weise, in den letzten acht Wochen vor der Geburt schon Stimulation und scheinen das Kind auf einige wichtige Aspekte seiner Neugeborenenumwelt vorzubereiten.

 

Motorische Verhaltensentwicklung des Fötus

 

Die vorgeburtliche motorische Entwicklung wird ebenfalls gern als Modellfall für allgemeinere Entwicklungsprinzipien herangezogen. Die Ultraschallmethode erlaubt es, das Aussehen und das motorische Verhalten des normalen, gesunden, lebensfähigen Embryos und Fötus in seiner natürlichen Umwelt zu beobachten und bisherige Vorstellungen über den Fötus wesentlich zu korrigieren. Der Fötus ist weit früher aktiv, als dies von der werdenden Mutter wahrgenommen wird, nämlich bereits in der B. bis 12. Gestationswoche, und er zeigt von früh an spontane Aktivität und sogar strukturierte Aktivitätsmuster. Zunächst sind es generalisierte Zuckungen oder Massenbewegungen, bald aber auch isolierte Arm- und Beinbewegungen, sogar Schluckaufs. Ab der 10. Woche wurden Atembewegungen und Berührungen des Gesichtes mit der Hand beobachtet, ab der 12. Woche Saugen und Schlucken. In der 12. bis 16. Woche tauchen das Räkeln, Strecken und Gähnen in genau der Art auf, wie wir es unser ganzes Leben lang zeigen. Ab der 14. Woche läßt sich eine Zyklisierung der Aktivität mit kurzzeitigen Schüben und Ruhepausen erkennen, die vermuten lassen, daß schon von früh an sowohl aktivitätsfördernde wie -hemmende neuronale Mechanismen existieren. Die Gesamtaktivität des Fötus nimmt bis kurz vor dem Geburtstermin zu und vermindert sich dann in den letzten Wochen, allein schon aus Platzmangel. In den letzten zwei Wochen wird der Säugling; vom Tagesrhythmus der Mutter beeinflußt und ist v.a. während ihrer Schlafzeit motorisch aktiv.