Der Islam
Der Islam
(arabisch: Unterwerfung, Hingabe), die jüngste der großen Weltreligionen, von
Mohammed gestiftet. Das arabische Wort ,,Islam" bezeichnet die unbedingte
Ergebung in den Willen des einen Gottes Allah. Die Anhänger des Islam nennen
sich selbst Muslime. Die Bezeichnung Mohammedaner wird von Muslimen
abgelehnt, da diese einen Personenkult um Mohammed impliziere, der nicht der
Lehre des Islam entspräche.
Der Glaube an einen Gott
Der Islam ist streng monotheistisch. Er vertritt ebenso wie Judentum und
Christentum den Glauben an den einen allmächtigen Gott. Die Welt stellt ein
wohlgeordnetes, harmonisches Ganzes dar, in dem alles seinen Platz und seine
Ordnung hat.
Gegenüber der Welt und speziell gegenüber der Menschheit nimmt Gott vier
fundamentale Aufgaben wahr: Schaffen, Versorgen, Führen und Richten. Die Aufgabe
der Menschheit ist der ,,Dienst an Gott" sowie der Aufbau einer
Gesellschaftsordnung, in der ethische Prinzipien verwirklicht sind.
Islamische Lehre:
Die beiden grundlegenden Quellen der islamischen Glaubenslehre und
Religionsausübung sind der Koran und die Sunna.
·Der Koran ( Qur 'an )
Die Muslime verstehen den Koran als das Wort Gottes, wie es Mohammed durch den
Erzengel Gabriel übermittelt wurde. Die grundlegende Botschaft des Korans ist,
dass es nur einen Gott gibt, der Schöpfer aller Dinge ist. Er ist ein gnädiger
Gott, der immer wieder Propheten zu den Menschen sendet. Sie glauben, dass Gott
selbst und nicht Mohammed, der Autor des Korans ist, welcher deshalb unfehlbar
sei. Diese Schrift stellt die Sammlung der Worte dar, die Mohammed während der
rund 22 Jahre seines Wirkens als Prophet zwischen 610 und 632 geoffenbart
wurden. Sie besteht aus 114 Suren (Kapitel) von unterschiedlicher Länge, dessen
kürzeste nur drei kurze Verse umfasst, die längste 306 Verse. Islamische wie
nicht islamische Gelehrte stimmen darin überein, dass der Text des Korans im
Lauf seiner Geschichte im wesentlichen unverändert überliefert wurde. Darüber
hinaus umfasst der Koran Regeln zum religiösen Leben sowie zu Heirat, Scheidung
und Erbangelegenheiten.
·Die Sunna
Die zweite Hauptquelle des Islam, die Sunna (arabisch: Gewohnheit), auch als der
vorbildliche Weg des Propheten bezeichnet, ist im Hadith (arabisch:
Überlieferung), einer Textsammlung aus dem 9. Jahrhundert enthalten. Diese
umfasst die Aufzeichnungen über Denken, Handeln und Leben des Propheten.
Der Hadith wird im Unterschied zum Koran nicht für unfehlbar gehalten und
ist diesem gegenüber von nachrangiger Bedeutung, wird aber von den meisten
Muslimen als grundlegend für Glaube und Handeln angesehen.
Die Unterwerfung unter dem Willen Gottes
Die als ,,fünf Säulen des Islam" bekannten Pflichten werden im Islam als
Grundlage für das Leben jedes Gläubigen gehalten.
·Glaubensbekenntnis: Der Glaube an einen einzigen Gott
Entsprechend der uneingeschränkt monotheistischen Auffassung des Islam ist die
erste Pflicht das Glaubensbekenntnis (shahada): ,,Ich bezeuge, dass es
keinen Gott gibt außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet." Jeder darf sich
als Muslim oder Muslimin betrachten, der bzw. die das Glaubenszeugnis bewusst
und aufrichtig vor einer festgelegten Anzahl von Zeugen ausspricht.
·Das tägliche Gebet
Die zweite Pflicht besteht in fünf täglichen Gebeten verkündet durch den
Muezzin. Vor jedem Gebet muss sich der Muslim einer rituellen Waschung
unterziehen. Dann richtet er sich in Richtung der Kaaba Moschee in Mekka. Eine
einzelne Gebetseinheit besteht aus einer stehenden Stellung, einer Verbeugung
und zwei Prostrationen (Niederstrecken und Berühren des Bodens mit der Stirn)
und schließlich einer sitzenden Position. Dabei werden vorgeschriebene Gebete
und Koranstellen rezitiert.
·Almosensteuer
Die dritte Hauptpflicht eines Muslims ist das zahlen von Zakah ( eine Art
Pflichtabgabe). Dies war ursprünglich die Steuer, die Mohammed von den reichen
Mitgliedern der Gemeinschaft erhoben hatte, um den Armen zu helfen. Darüber
hinaus soll die Zakat für die Mission sowie für den Dhjihad verwendet werden.
Nur wenn diese Abgabe bezahlt ist, gilt der übrige Besitz eines Muslims als rein
und legitim.
·Das jährliche Fasten
Die vierte Pflicht besteht im Fasten während des Ramadan im neunten Monat des
islamischen Mond-Kalenders. Während des Fastenmonats enthält sich der erwachsene
und gesunde Muslim von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang der Nahrung, Getränke,
Genußmittel wie z. B. Rauchen sowie des Geschlechtsverkehrs. Erleichterungen
gibt es für Kranke, Reisende oder Frauen während einer Schwangerschaft.
·Wallfahrt nach Mekka
Die fünfte Pflicht ist die Wallfahrt zur Kaaba in Mekka. Alle erwachsenen
Muslime, die körperlich und wirtschaftlich dazu in der Lage sind, müssen diese
Wallfahrt mindestens einmal im Leben machen. Also nur Muslimen die dazu
finanziell und gesundheitlich in der Lage sind. Die Wallfahrt (hadjdj) findet
während der ersten zehn Tage des letzten Monats im Mondjahr statt und beginnt
damit, dass sich die Pilger durch Waschungen und Anlegen eines Bußgewandes in
einen Zustand der Reinheit versetzen. Der Hadjdj besteht im siebenmaligen
Umschreiten der Kaaba sowie sieben Pilgergängen zwischen den Hügeln Safa und
Marwa in der Nähe des Heiligtums, einem Gang von etwa 4,5 Kilometer bis Mina und
weiteren 11 Kilometern auf den Berg Arafat, einer symbolischen Steinigung des
Teufels und der Schlachtung eines Tieres zur Erinnerung an Abrahams Opfer.
Neben diesen fünf Hauptstützen des Islam gibt es weitere wichtige Vorschriften,
beispielsweise das Verbot, Alkohol zu trinken oder Schweinefleisch zu essen.
Neben der Kaaba, dem zentralen Heiligtum des Islam, sind die Moscheen, in der
die täglichen Gebete sowie das Freitagsgebet stattfinden, die wichtigsten
Zentren des islamischen Lebens.
Islamisches Recht
Das islamische Recht besteht aus vier Quellen, den sogenannten ,,Wurzeln des
Rechtes". Die ersten beiden Quellen sind die schriftlich niedergelegten in Form
des Koran und der Sunna. Die dritte Quelle wird als ,,Idjtihad"
(,,individuell verantwortete Meinung") bezeichnet und wird herangezogen, wenn
ein Thema im Koran und in der Sunna nicht abgehandelt wird.
·Djihad oder Dschihad
Der Ausdruck ,,Djihad", der mit ,,Heiliger Krieg" übersetzt wird, bezeichnet den
Kampf für das islamische Ziel der ,,Verbesserung der Welt"; wenn notwendig,
können dafür auch Streitkräfte eingesetzt werden. Einige muslimische Herrscher
des Mittelalters setzten dabei den Djihad dafür ein, um Kriege zu rechtfertigen,
die aus rein politischen Ambitionen geführt wurden.
Der klassischen islamischen Rechtsauffassung zufolge zerfällt die Welt in drei
Gebiete: das ,,Gebiet des Islam", in dem die Muslime die Vormacht besitzen, das
,,Gebiet des Vertrages", die Mächte, mit denen Muslime Friedensverträge
geschlossen haben, und das ,,Gebiet des Krieges", also die übrige Welt.
·Die Familie
Die islamische Gemeinschaft bringt eine Stärkung der Familie sowie die
gleichzeitige Schwächung alter Stammesbindungen mit sich, wobei letztere jedoch
nicht völlig verschwanden. Der Koran betont den Respekt vor den Eltern. Der
Koran schreibt auch Maßnahmen zur Verbesserung der Stellung der Frau vor, wobei
die im vorislamischen Arabien verbreitete Kindestötung von Mädchen verboten
wurde; Töchter haben Anspruch auf einen Erbteil, wenn auch nur auf die Hälfte
dessen, was Söhne beanspruchen können. Der Koran legt wiederholt Nachdruck auf
eine gute Behandlung der Frau und gesteht Ehefrauen im Fall einer schlechten
Behandlung das Recht auf Scheidung zu. Der Koran erlaubt die Polygamie mit bis
zu vier Frauen, ermahnt aber auch: ,,Wenn Du fürchtest, nicht allen Frauen
gleichermaßen gerecht zu werden, dann heirate nur eine Frau." Der Missbrauch der
Polygamie und des Rechtes, eine Frau auch dann zu verstoßen, wenn sie sich
nichts hat zuschulden kommen lassen, hat dazu geführt, dass in den meisten
muslimischen Ländern in neuerer Zeit ein neues Eherecht eingeführt wurde.
Propheten
Nach islamischer Auffassung schickte Gott aufgrund der moralischen Schwäche der
Menschen Propheten, um den Völkern sowie den einzelnen das moralisch und
spirituell richtige Verhalten zu lehren. Mit diesem Akt göttlicher Führung sei -
neben Schöpfung und Versorgung - Gottes Gnade vollendet. Obwohl Gut und Böse ins
Herz des Menschen eingeschrieben seien, hätten die Unfähigkeit oder die
Weigerung vieler Menschen, diese Inschrift zu lesen, die Führung durch Propheten
erforderlich gemacht. Nach dem Islam war Adam der erste Prophet. Die Botschaften
aller Propheten stammen danach aus derselben göttlichen Quelle, die im Koran als
,,wohlverwahrte Tafel", ,,das verborgene Buch" und ,,die Mutter aller göttlichen
Bücher" bezeichnet wird. Die Propheten sind eine untrennbare Einheit. Sie sind
menschlicher Natur, haben nicht an der Göttlichkeit teil, sondern sind die
vollkommensten Vorbilder für die Menschheit. Da einige Propheten den anderen
überlegen sind, speziell bezüglich ihrer Standhaftigkeit gegenüber Versuchungen,
bezeichnet der Koran Mohammed als ,,Siegel aller Propheten". Deshalb glauben die
Anhänger des Islam, dass das Prophetentum mit Mohammed vollendet und beendet und
dass der Koran die letztgültige und vollkommene Offenbarung Gottes ist, die alle
früheren Offenbarungen vollendet und aufhebt.
Geschichte
Zu Mohammeds Lebzeiten (um 570 bis 632) war die Arabische Halbinsel von
nomadischen, viehzüchtenden Beduiden und von handeltreibenden Arabern, die
vornehmlich in Städten wohnten, bevölkert. Die Religion der Araber war
polytheistisch. Davon unabhängig existierte eine alte monotheistische Tradition
oder zumindest ein überlieferter Glaube an eine höchste Gottheit. Vermutlich
trugen auch jüdische und christliche Gemeinden zu einer wachsenden
Aufgeschlossenheit gegenüber monotheistischen Lehren bei. Schon vor Mohammed gab
es eine Reihe monotheistischer Prediger, die jedoch erfolglos blieben.
·Mohammed - ihr Prophet
Mohammed begann sein Wirken mit 40 Jahren, als ihm, wie er berichtete, in einer Vision der Erzengel Gabriel erschien. Mohammed vertraute seiner Familie und engen Freunden seine Visionen an. Er begann dann, öffentlich in seiner Geburtsstadt Mekka zu predigen, wurde jedoch verspottet. So zog er 622 nach Medina. Diese Auswanderung stellt den Beginn der islamischen Zeitrechnung dar. In Medina gewann Mohammed bald weltliche und geistliche Autorität und war als Gesetzgeber und Prophet anerkannt. 630 ergab sich auch Mekka. Bei seinem Tod 632 war Mohammed Herrscher über einen arabischen Staat, dessen Macht rasch zunahm. Mohammed rezitierte jene Worte, die heute am Beginn der Sure 96 des Korans stehen:
,,Lies im Namen deines Herrn, der alles geschaffen hat und der den
Menschen aus geronnenem Blut erschuf. Lies, denn dein Herr ist der gnädigste,
der den Gebrauch der Feder gelehrt, was er nicht gewusst."
Zentral für Mohammeds Lehre war die Güte, Allmacht und Einheit Gottes sowie
die Forderung von Großzügigkeit und Gerechtigkeit in zwischenmenschlichen
Beziehungen. Wichtige Elemente des Judentums und des Christentums wurden in die
neue Religion aufgenommen, die ihre Wurzeln jedoch in den vorislamischen
arabischen Traditionen hatte. Zentrale Institutionen wie die Wallfahrt und das
Heiligtum der Kaaba wurden in veränderter Form aus dem heidnischen arabischen
Glauben übernommen.
Die Beziehung zu dem Christentum
Der Islam betrachtet das Christentum zur Zeit, als Jesu gelebt hat, als eine
legitime und von Gott herabgesandte Religion. Damit wäre sie auch richtig, wenn
nicht im Laufe der Zeit viel an ihr verändert worden wäre. Dennoch haben Juden
und Christentum bei den Muslimen einen hohen Stellenwert und werden als
,,Schriftreligionen" bezeichnet. Es ist deshalb beispielweise den Muslimen
erlaubt, von Christen oder Juden geschlachtete Tiere zu essen. Auch steht es
einem Muslim frei eine Christin oder Jüdin zu heiraten.
·Der Stellenwert von Bibel und Thora im Islam
Der Islam anerkennt und respektiert die heiligen Bücher der beiden anderen
Schriftreligionen. Allerdings gehen die Muslimen davon aus, dass der Inhalt der
von Gott herabgesandten Texte durch die Menschen verändert wurde, wodurch sich
die wortwörtliche Bedeutung dieser Schriften relativierte.
Sunniten
Die Sunniten sind nach den Schiiten die größte Gruppe im Islam. Der Begriff
Sunna, den die Sunniten auf ihre Gruppe beziehen, bedeutet vermutlich ,,Mitte
des Weges". Die Lehren der Sunniten bildeten sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts
heraus, während ihre Theologie als einheitliches System im 10. Jahrhundert
entwickelt wurde. Damit reagierten die Sunniten auf frühe
Abspaltungsbestrebungen anderer islamischer Gruppen, wie z. B. der Charidschiten,
Mutasiliten und der Schiiten. Die Betonung der Bestimmung des menschlichen
Schicksals durch den Willen Gottes entstand in der Auseinandersetzung mit der
Überzeugung der Mutasiliten von der absoluten Freiheit des menschlichen Willens.
Innerhalb der sunnitischen Theologie haben sich vier Gesetzesschulen entwickelt:
die Schafiiten, die Hanefiten, die Malikiten und die Hanbaliten.
Schiiten
Die Schiiten sind eine der kleineren der beiden Hauptgruppen des Islam, die etwa
ein Zehntel aller Muslime ausmacht. Beide Gruppen unterscheiden sich weniger
durch ihre Riten und Gesetze als vielmehr aufgrund ihres Ethos, ihrer Theologie
sowie in der Frage der Rechtmäßigkeit des Imams.
Der Begriff Schiiten geht auf den arabischen Begriff Shiat Ali zurück,
was soviel bedeutet wie ,,die Anhänger Ali Ibn Abi Talibs". Wie alle islamischen
Gruppen betrachten auch die heutigen Schiiten ihre Darstellung des Islam als
reinste Form der ursprünglichen Religion Mohammeds. Die ersten Schiiten
bekannten sich zu keinen einheitlichen oder klar abgegrenzten religiösen Zielen.
Zu den bedeutendsten schiitischen Gruppen der Gegenwart gehören die Imamiten,
die Ismaeliten und die Zaiditen.
·Die Autorität und ihre Ausübung im schiitischen Glauben
Die drei schiitischen Richtungen haben recht unterschiedliche Auffassungen von
der praktischen Ausübung der religiösen Autorität, obwohl die Theorien der
Imamiten und Ismaeliten, wie z. B. über die Lehre vom Amt der Imame, weitgehend
übereinstimmen. Da der Kontakt der Imamiten zu ihrem Imam seit dem
9. Jahrhundert abgebrochen ist, erfolgte ihre religiöse Leitung traditionsgemäß
durch die Geistlichkeit, d. h. durch die traditionellen Hüter der von den
Vorschriften der Propheten und Imamen abgeleiteten Schriften.
Unter den Geistlichen waren es die Rechtsgelehrten, die sich zu
Vertretern der verborgenen Imame erklärten und als solche allmählich anerkannt
wurden. Über mehrere Jahrhunderte hinweg gelang es eifrigen imamitischen
Rechtsgelehrten, sich den Großteil der verschiedenen religiösen Pflichten und
Privilegien anzueignen, die nach dem Amt des zwölften Imams nicht mehr ausgeübt
wurden, wie z. B. die Leitung des Freitaggebets, das Verteilen und Eintreiben
verschiedener Steuern, die Ernennung von Richtern, das Fällen
gesetzlicher Entscheidungen in Angelegenheiten, in denen keine Präzedenzfälle
bekannt sind sowie die Ausfertigung von Rechtsgutachten. Folglich sind die
imamitischen Rechtsgelehrten aufgrund dieser Funktionen zu großem Wohlstand und
politischer Macht gekommen. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich unter ihnen auch
eine religiös-politische Machthierarchie herausgebildet. Die obersten
Würdenträger besitzen eine weitaus größere Autorität als die Rechtsgelehrten der
Sunniten, der traditionellen Ismaeliten oder der Zaiditen. Als kollektives Organ
sind sie eher mit dem Sultan oder dem Kalifen der Sunniten vergleichbar. Nur der
,,absolute Dai" der ismaelitischen Bohras übt eine größere Autorität aus.
Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten
.
·Islamisches Gesetz
Bezüglich der Deutung des göttlichen islamischen Gesetzeskodex weichen Sunniten
und Schiiten kaum voneinander ab. Die wenigen bedeutenden Unterschiede betreffen
vorwiegend die Gesetze hinsichtlich des Erbrechtes und der Rechte der Frau,
wobei sich die Imamiten und Ismaeliten diesbezüglich als liberaler erweisen.
Darüber hinaus akzeptieren die Imamiten als einzige eine nicht auf Lebzeiten
geschlossene Ehe, eine Anschauung, die sowohl von den Ismaeliten wie auch
von den Zaiditen und Sunniten abgelehnt wird.
·Rechtswissenschaft und neu auftretende Fälle
Das zaiditische und imamitische Recht ist fast identisch mit jenem der Sunniten
im allgemeinen und dem der schafiitischen Schule im besonderen. Sowohl
die Zaiditen wie auch die traditionellen Imamiten zitieren dieselben
Gesetzesquellen wie die Sunniten, und zwar den Koran, den Hadith, den
Konsens der Gemeinschaft und die sich auf die menschliche Vernunft gründenden
Rechtsgutachten. Allerdings betrachten die Imamiten den Konsens als
gemeinschaftliche Übereinstimmung mit einem Imam. Das Rechtsgutachten ist eine
Gesetzesquelle für neu auftretende Fälle. Diesbezüglich unterscheiden sich die
Imamiten von den Sunniten bloß darin, dass sie als Vergleichsmittel zwischen
bereits aufgetretenen und neu auftretenden Fällen die deduktive Beweisführung
anstatt der analogen einsetzen. Sowohl Sunniten wie auch Zaiditen und Imamiten
betrachten derartige Rechtsgutachten als zeitlich begrenzt und subjektiv, wobei
es zulässig ist, diese offen zu diskutieren. Folglich werden Sunniten, Zaiditen
und Imamiten bezüglich der Rechtsgutachten gewisse Freiheiten eingeräumt.
Hingegen sind die Rechtsgutachten bei den ismaelitischen Sekten der Hodschas und
der Bohras überflüssig, da sie davon ausgehen, dass ihr Imam (mit unfehlbarer,
gottverliehener Erkenntnis ausgestattet) bzw. ihr ,,absoluter Dai" (in Besitz
relativer Unfehlbarkeit und höherer Erkenntnis als einziger Vertreter des Imams)
stets einwandfreie und bleibende Lösungen finden wird.
·Ritus
Die Riten der Schiiten und der Sunniten weichen in einigen Punkten voneinander
ab. Zu den bedeutenden Unterschieden zählt z. B. die Erweiterung der allgemeinen
muslimischen Glaubensformel durch den Zusatz: ,,wa Ali wali Allah" (,,und Ali
ist Gottes Freund"). Im Unterschied zu den Sunniten beten die schiitischen
Imamiten nur dreimal anstatt fünfmal täglich und werden aufgefordert, kleinere
Pilgerfahrten zu den Gräbern der zwölf Imame zu unternehmen, durch die sie sogar
die Hadsch, die große islamische Wallfahrt und eine der fünf Säulen des
Islam, ersetzen können.
Während alle drei schiitischen Gruppen die Ermordung Alis und seines Sohnes, des
Imams Husain, betrauern, haben die schiitischen Imamiten verschiedene Riten
bezüglich der beiden Märtyrer institutionalisiert und heben sich somit von den
anderen Schiiten sowie von den Sunniten ab. Der erste Ritus bezieht sich nur
indirekt auf Ali, der auch Walaja oder Tawalla genannt wird. Um
ihren Bund mit ihm zu bekräftigen, verkünden die Imamiten häufig die offizielle
Exkommunizierung von Alis Rivalen und ergehen sich in öffentlichen Schmähungen
und Beschimpfungen gegen dieselben, die wiederum von den Sunniten verehrt
werden, wie z. B. Mohammeds Witwe, die ersten drei Kalifen sowie alle
Gefolgsmänner des Propheten, die nicht als Anhänger Alis gelten. Diese
Handlungen erreichten ihren Höhepunkt im Iran, wo die Safaviden Umar-kushan
institutionalisierten, die jährliche feierliche Begehung des Mordes an dem
zweiten Kalifen Umar Ibn al-Khattab, wobei dessen Bildnis verbrannt wurde. Eine
derartige Abwendung (und Schmähung) von verehrten sunnitischen Gestalten wird
von den meisten Zaiditen abgelehnt, die in ihren religiös-historischen
Traditionen solche Gestalten weit positiver darstellen.
Der zweite von den Imamiten eingeführte Ritus ist die jährliche Trauerfeier zu
Ehren des Enkels des Propheten und dritten Imams Husain Ibn Ali Ibn Abi Talib,
der bei Karbala zu Aschura, im Monat Muharram (Tazija) den
Märtyrertod starb. Während dieser ritualisierten Trauerfeiern bekunden
imamitische Männer häufig ihr Mitleid, indem sie ihren Körper geißeln und ihre
Stirn mit Rasierklingen aufritzen.
·Theologie
Die Imamiten und Zaiditen orientierten sich an den theologischen Dogmen der
Mutasiliten, der führenden Theologenschule unter einigen sunnitischen
Abbasidenkalifen. Im Unterschied zu den Sunniten, die an die Ewigkeit des Korans
glauben und an eine Vorbestimmung der Menschheitsgeschichte und des Universums,
glauben die Imamiten und Zaiditen an den freien Willen des Menschen und an die
zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte Erschaffung des Korans. Die Ismaeliten
wiederum bekannten sich zu einem überarbeiteten und angepaßten Neuplatonismus,
einem philosophischen System, das auch von vielen sufistischen Gruppen und
islamischen Philosophen übernommen wurde. Zusammenfassend kann man sagen, dass
die schiitische Theologie, die empfänglicher für philosophische Einflüsse war,
mit jener der Sunniten unvereinbar ist.
·Ethos und Weltanschauung
Da die Schiiten eine islamische Minderheit darstellen, mussten sie häufig eine
Verteidigungsstellung beziehen und neigten dazu, esoterische Interpretationen zu
entwickeln. Von daher besteht eine enge Beziehung zwischen dem Ethos und der
Weltanschauung sowie ihrer politischen Einstellung.
·Schiitische Einflüsse im sunnitischen Glauben
Seit dem Mittelalter hat der Glaube der schiitischen Imamiten sunnitische Denker
und Gruppen entscheidend geprägt. Unter den Sunniten war die Verehrung der
Aliden weit verbreitet, insbesondere der zwölf Imame der schiitischen Imamiten.
Während der Herrschaft der Mongolen (13. bis 14. Jahrhundert) und der
Timuriden (spätes 14. bis 15. Jahrhundert) war es unter den Sunniten üblich,
die zwölf Imame zu verehren, wie z. B. durch Pilgerfahrten zu deren Gräbern und
auch zu denen ihrer eigenen großen Sufimeister oder sogar durch die Teilnahme an
schiitischen Trauerprozessionen. Die Aufgeschlossenheit der Sufis gegenüber
solchen Handlungen beruhte auf der Vorrangstellung Alis, des ersten Imams, den
sie als Vater ihrer Bewegung ansahen. Über den Sufismus wurde schließlich ein
Großteil der schiitischen Gefühlswelt und ihrer Riten auf den traditionellen
Glauben der Sunniten übertragen. Es kam sogar so weit, daß viele sufistische
Orden sich von den Sunniten abkehrten und zu den Schiiten übertraten (wie z. B.
die Kubrawis, Nimatullahis und die Safaviden). Die sunnitische Verehrung der
schiitischen Imame bewirkte jedoch andererseits nicht, dass die Schiiten
Persönlichkeiten der Sunniten huldigten. Sie verstärkten sogar während des
Mittelalters ihre öffentliche Exkommunizierung und Verleumdung.
Trotz ihrer Unterschiede und wechselvollen Geschichte kam es während der letzten
Jahrhunderte zwischen Sunniten und Schiiten wiederholt zu Bestrebungen, ihre
Differenzen zu überwinden. Im 18. Jahrhundert unternahm der imamitische
Herrscher des Iran, Nadir Schah, den Versuch, die schiitischen Imamiten unter
dem Namen Dschafari Madhhab in eine fünfte Gesetzesschule der Sunniten
umzuwandeln, was ihm jedoch nicht gelang. Als die neugegründete Regierung der
türkischen Republik (Nachfolger des ehemaligen Osmanischen Reiches) 1922
Gespräche zur Abschaffung des Kalifats ,,aller sunnitischen Muslime" einleitete,
wurden aus Indien zwei Schiiten (ein Imamit und ein Hodscha) entsandt, um die
Interessen beider Gemeinschaften, sowohl der schiitischen wie auch der
sunnitischen, zu vertreten. Ein weiteres interessantes Beispiel war die
Sympathiebekundung einiger Sunniten, die das von dem schiitischen Führer des
Iran, erlassene Todesurteil gegen Salman Rushdie unterstützten.