Die psychoanalytische Entwicklungstheorie
Die Entwicklung besteht nach Freud gleichzeitig im phasenhaften Dazukommen immer neuer erogener Zonen und im Aufbau der Persönlichkeitsstruktur.
Die psychoanalytische Phasentheorie
Die psychische Entwicklung nach Freud ist im wesentlichen die Entwicklung der Sexualität. Es ist eine Entwicklung in Phasen; die Phasen sind gekennzeichnet durch die Aktualisierung von je neuen erogenen Zonen.
- Die orale Phase (1. Lebensjahr)
Die aktuellen erogenen Zonen sind die Mundschleimhäute. Die Triebbefriedigung geschieht durch Berühren, Saugen, Kauen, Schlucken, d.h. durch Trinken, Lutschen, Essen, später überdies durch Schwatzen, Beißen, Rauchen, Küssen, Blasinstrumentspiel, etc. In den Äußerungen dieser Phase finden wir einen passiven und einen aktiven (sog. oral-sadistischen) Aspekt. Laut Freud setzt der oral-passive früher ein; der oral-sadistische folgt mit der Ankunft der Zähne, die das Beißen ermöglichen.
Freud unterscheidet verschiedene orale Funktionsmodi, nämlich:
- Einnehmen
- Festhalten
- Beißen
- Ausspeien
- Schließen.
Diese können u.U. später den Charakter bestimmen (partielle Fixierung). So kann sich das Einnehmen später in exzessivem Trinken, in fleißigem Studieren, in Identifikation mit andern Personen zeigen, das Festhalten in Zielstrebigkeit oder in Hartnäckigkeit, das Beißen in Sarkasmus, Zynismus und Dominanz, das Ausspeien in Ablehnung und das Schließen in Introversion, Ablehnung oder Negativismus.
- Anale Phase (2. und 3. Lebensjahr)
Die aktuelle erogene Zone in der analen Phase ist die Afterregion, die typischeTriebbefriedigung besteht in der Entleerung des Darms oder auch im Zurückhalten des Kots, im Spiel mit dem Kot. Dem elementaren Erlebnis des Ausscheidens stellen sich die Anforderungen der Umwelt entgegen: Sie verlangt Aufschub der Ausscheidung, Ausscheidung auf Kommando und auf besonders reinliche Art. Die Ausscheidung wird zu einem Konfliktgegenstand zwischen Kind und Mutter, Exkremente werden zu überreichten oder auch zu verweigerten Geschenken.
Eine unbefriedigende Lösung dieses Konflikts führt zu Fixierungen, resp. zu sog. analem Charakter. Dieser kann sich auf verschiedenartige Funktionsmodi (wieder passive und aktive) fokussieren:
- Zurückhalten: Geiz, Knausrigkeit
- Sauberkeit: Reinlichkeitsfimmel, Pedanterie
- Ausscheiden: Generosität
- Darbieten, Schenken: Großzügigkeit, Aufopferung
- Spiel mit Kot: Freude an Zoten, Handgreiflichkeit.
- Phallische Phase (3. bis 6. Lebensjahr)
Die Genitalregion wird zur erogenen Zone (griech. phallos = Pfahl). Die typischen Triebbefriedigungen sind das Spiel mit den Genitalien und das Urinieren («Spritzen»).
In dieser Phase nimmt das Kind die Geschlechtsunterschiede wahr. Der Bub spielt mit seinen Genitalien, hat Phantasien über den Einbezug seiner Mutter. Der Vater tadelt das Spiel mit den Genitalien; der Bub empfindet den Vater als Gegenbuhler in seinen Gefühlen für die Mutter, und gleichzeitig stellt er fest, daß die Mutter gar keinen Penis hat und befürchtet nun, er könnte von seinem Vater für sein Spiel zur Strafe (wie seine Mutter) kastriert werden. Schließlich gibt der Bub nach, «identifiziert» sich mit den Ansprüchen seines Vaters (-) Ober-Ich). Dieses traumatische Erlebnis hinterläßt den Ödipus-Komplex und gibt Raum für die Latenzzeit. Das Mädchen ist zunächst auch in seine Mutter verliebt. Aber eines Tages stellt es fest, daß es - ungleich seinem Vater oder seinem Bruder - keinen Penis hat. Daraus entsteht der sog. Penisneid (Freud spricht auch von «Klitorisminderwertigkeit»), wofür es seine Mutter beschuldigt, die es unvollständig, «kastriert» auf die
Welt gebracht hat. Es setzt seine Hoffnung auf den Vater; der ihm einen Ersatz liefern soll, nämlich ein Baby als Penis-Substitut. Es wendet seine positiven Gefühle also auf den Vater, die Mutter wird zur Nebenbuhlerin (Elektra-Konflikt). Aus Furcht vor ihr oder noch mehr, weil sie doch ein Modell dafür ist, wie man dem Vater gefällt, identifiziert es sich aber mit ihr, etc Ungleich der Ödipus-Situation des Knaben gibt es hier keinen so offensichtlichen Anlaß, die elektralen Ansprüche zurückzudrängen; beim Knaben ist es die Angst vor Kastration.
In der phallischen Phase bildet sich also das Ober-Ich, nämlich als Identifikationsprodukt. Eine ungenügende Konfliktlösung auf dieser Stufe kann ebenfalls den Charakter prägen: Verhältnis zu Vater und Mutter, Verhältnis zu Ehepartner, zu Männern und Frauen überhaupt. Phallisch kann auch die Wißbegierde sein, alles was zu tun hat mit:
- Forschen,
- Eindringen,
- Bemächtigen.
- Latenzzeit (5./6. Lebensjahr bis Pubertät)
In der Latenzzeit (Schulzeit) ist keine Körperzone besonders erogen. In dieser Zeit ruht die Sexualität.
- Genitale Phase (Pubertät)
In dieser Phase werden alle früheren erogenen Zonen wieder aktualisiert. Die Partialtriebe verschmelzen unter dem «Primat der Genitalität». Sie sind im geglückten Fall alle da: Küssen, Beschauen, Betasten, Interesse an Körperöffnungen, Eindringen, sich Hingeben, etc. Die typische Triebbefriedigung wird erreicht durch Koitus oder durch Masturbation. In neurotischen Situationen und in Perversionen können aber die Partialtriebe wieder isoliert sichtbar werden.
Kernpunkte der psychoanalytischen Entwicklungstheorie
Die Entwicklung über diese fünf Phasen leistet gleichzeitig den Aufbau der Persönlichkeitsarchitektur: Am Anfang gibt es nur Es, dann kommt das Ich dazu und schließlich das Ober-Ich (Figur 5-2). Dieser Aufbau bedeutet, daß die Entwicklung eine Zunahme von Bewußtheit und bewußter Kontrollierbarkeit des Verhaltens mit sich bringt.
Der erste Anstoß für die Entwicklung ist somatisch, d.h. genetisch determiniert. Nicht die Gesellschaft, nicht irgendwelche neuen Kognitionen, nicht die Neugier stößt die Entwicklung an, sondern die Tätsachen, daß der Körper Triebenergie produziert und daß die Quellen der Triebe (sog. erogene Zonen) wechseln (Phasen 1 bis 3), resp., daß das Triebobjekt und die Trieborganisation wechseln (Phase 5). Diese Tatsachen werden nicht weiter hinterfragt. Die entscheidenden Weichenstellungen für die gesamte Entwicklung ereignen sich in den ersten Lebensjahren. Ungenügende Konfliktlösung in den ersten der Phasen bestimmen wesentlich den Charakter des Menschen (vgl. sog. anale Charaktere etc.). Ungelöste Konflikte können als Neurosen das ganze Leben beeinträchtigen. Es ist interessant zu sehen, daß Freud eigentlich ein Erwachsenentherapeut war und durch die Einsichten aus dieser Arbeit auf die Bedeutung der Kindheit stieß. Das mag erklären, daß Freud, wie so manche Psychologen, das Kind aus der Sicht der zu erreichenden Erwachsenenform beschreibt.
Freud führte das Konzept der 'Fixierung' ein. Fixierung ist ein 'Hängenbleiben' in einer Phase, die (dem Alter entsprechend) eigentlich überwunden sein sollte. Dies ist bedingt durch nichtadäquat gelöste Konflikte Fixierungen werden oft gekennzeichnet nach der phasentypischen Körperregion, die für die Triebbefriedigung bevorzugt wird (z.B. 'oraler Charakter'), dann aber auch nach dem vorherrschen Funktionsmodus (z.B. für den analen Typ: Nörgeler, Geizhals; für den oralen Typ: Trinker, Sadist).
Wann ist ein Konflikt adäquat verarbeitet? Wann nicht? Freud gibt hierzu keine verbindlichen und präzisen Angaben. Später hat Fenichel (1945) präzisere Aussagen gemacht ü ber die Bedingungen, unter denen Fixierungen besonders häufig entstehen, nämlich:
- exzessive Befriedigung
- exzessive Versagung
- unvorhersehbarer Wechsel von Befriedigung und Versagung (modern: learned helplessness)
- Koppelung von Versagung und Tröstung