Die psychoanalytische Theorie
Ein grundlegendes Modell der Persönlichkeitspsychologie ist die
psychoanalytische Theorie von Sigmund Freud. Er sieht den Menschen als ein von
sexuellen und aggressiven Trieben gelenktes Wesen, das danach strebt, seine
Triebwünsche möglichst schnell und umfassend zu befriedigen. Die meisten
menschlichen Verhaltensweisen sind darauf gerichtet, Triebwünsche zu
befriedigen, innere Spannungen zu reduzieren und neue Energien freizusetzen.
Meist ist sich der Mensch dieser Kräfte nicht bewusst, die sein Verhalten
bestimmen und lenken.
„Das Kernstück des psychoanalytischen Menschenbildes ist die Erkenntnis, dass der Mensch ein Energiesystem ist. Es ist eine Art von System, bei dem die Energie fließen, auf einen Nebenstrang geschoben oder aufgestaut werden kann. Daneben ist die Energiemenge begrenzt und wenn sie für einen bestimmten Zweck eingesetzt wird, dann ist für andere Zwecke weniger davon vorhanden. Die Energie, die für kulturelle Zwecke verwendet wird, wird von der Energie abgezogen, die für die Sexualität verfügbar ist und umgekehrt. Wenn die Energie in einem Ausdruckskanal blockiert ist, findet sie einen anderen Kanal und fließt im Allgemeinen entlang dem Weg des geringsten Widerstandes. Das menschliche Verhalten kann viele Formen annehmen, aber grundsätzlich ist alles Verhalten reduzierbar auf gemeinsame Energieformen. Das Ziel jeden Verhaltens ist die Lust, d. h. die Reduktion von Spannung und das Freisetzen von Energie."
(Lawrence A. Pervin, 1993)
Zudem hebt die Psychoanalyse die Bedeutung des Unbewussten hervor: Nur ein geringer Teil der seelischen Vorgänge, die im Menschen ablaufen, ist bewusst; die meisten Vorgänge gehen unter die Oberfläche des Bewusstseins zurück und spielen sich im Unterbewussten ab.
Die Instanzen der Persönlichkeit
Um die Dynamik der Persönlichkeit erklären zu können, entwickelte Freud das
Modell der drei Persönlichkeitsinstanzen: ES, ICH und
ÜBER-ICH. Diese Instanzen repräsentieren verschiedene Teilaspekte der
Persönlichkeit und stehen miteinander in enger Wechselbeziehung. Die Gesamtheit
und Dynamik der Beziehungen zwischen den drei Instanzen macht nach Freud die
Persönlichkeit des Menschen aus.
Bei diesen Instanzen handelt es sich nicht um reale Gegebenheiten, sondern um
nicht beobachtbare Hilfskonstruktionen zur Erklärung des menschlichen
Erlebens und Verhaltens.
Das
ES
Das ES, die elementarste Schicht, ist bereits vom ersten Lebenstag an vorhanden und beinhaltet alle Triebe, Wünsche und Bedürfnisse eines Individuums.
Das ES ist die Instanz der Triebe, der Wünsche und der Bedürfnisse.
Im ES gelten keine Gesetze
des logischen Denkens, seine Impulse drängen rücksichtslos nach außen und wollen
befriedigt werden, wobei es keine Rolle spielt, ob dieses Ziel realisierbar oder
moralisch annehmbar ist. Es gehorcht allein dem Lustprinzip: Sein Ziel ist es,
sofortige und totale Triebbefriedigung ohne Rücksicht auf Verluste zu erreichen
sowie Schmerz und Unbehagen zu vermeiden:,
Thomas sieht bei seinem
Freund Andreas ein neues und interessantes Spielzeug. Obwohl er weiß, dass es
Thomas gehört, möchte er es sofort haben. Das ES will den Wunsch, Andreas das
Spielzeug wegzunehmen, sofort befriedigen.
Das ICH
Unter dem Einfluss der Außenweit, zum Beispiel durch die Anforderungen der
Eltern an das Kind, entwickelt sich das ICH. Das ICH entsteht dabei aus der
Notwendigkeit des Kindes, sich mit der realen Umwett zu befassen, um die eigenen
Bedürfnisse zu befriedigen. Die Aufgabe des ICH besteht darin, die Wünsche des
ES zum Ausdruck zu bringen und im Einklang mit der Realität zu befriedigen. Es
vermittelt sozusagen zwischen den Wünschen des ES und den Anforderungen der
Außenwelt.
Das ICH wird deshalb auch als das eigentliche Anpassungs- und
Selbsterhaltungsorgan des Menschen bezeichnet.
Während das ES nach dem Lustprinzip handelt, verhält sich das ICH
gemäß dem Realitätsprinzip die Triebbefriedigung wird bis zu einem günstigen
Zeitpunkt aufgeschoben, an dem ein Maximum an Vergnügen mit den geringst
möglichen negativen Konsequenzen oder Schmerzen verknüpft ist. Das ICH leistet
also Triebverzicht oder zeitlichen Aufschub der Befriedigung (Triebaufschub) und
lässt die vom ES geforderten Triebwünsche nur dann zu, wenn diese mit den
Anforderungen der Realität vereinbar sind.
Thomas weiß nicht, wie Andreas reagiert, wenn er ihm das Spielzeug wegnimmt: Andreas könnte wütend werden und ihn schlagen. Auch ist die Mutter von Andreas in der Nähe; sie würde ihn bestimmt schimpfen. Thomas will eine bessere Gelegenheit abwarten. Das ICH lässt in diesem Fall den Wunsch des ES nicht zu, da es mit den Anforderungen der Realität nicht vereinbar ist.
Das ICH ist die Instanz des bewussten Lebens, die die bewusste
Auseinandersetzung mit der Realität leistet.
Bei der Realitätsprüfung und Anpassung an die Umwelt helfen ICH-Funktionen, wie Gedächtnis, Wahrnehmung, Beherrschung des Bewegungsapparates, Denken, Sprechen, Beurteilen usw. Alle diese Ich-Funktionen entstehen erst im Laufe der individuellen Entwicklung.
Das ÜBER-ICH
Im deutlichen Gegensatz zum
ES steht das ÜBER-ICH, das den moralischen Teil der Persönlichkeit darstellt. Es
beinhaltet moralische und sittliche Gebote und Verbote und gesellschaftliche
Wert- und Normvorstellungen, die durch Eltern, Erzieher, Lehrer und andere
Bezugspersonen und Vorbilder an das Kind herangetragen und durch entsprechende
Erziehungsprozesse verinnerlicht werden. Auf diese Weise bildet sich das
ÜBER-ICH als dritte Instanz der Persönlichkeit heraus. Das ÜBER-ICH
entspricht in etwa dem Gewissen, das das Verhalten in Übereinstimmung mit
den gesellschaftlichen Regeln insofern kontrolliert, als es Belohnung für
„gutes" und Bestrafung für „schlechtes" Verhalten verspricht.
Das ÜBER-ICH beinhaltet aber auch das Ich-Ideal, das nach Perfektion und
der Realisierung verinnerlichter Ideale strebt. '
Das ÜBER-ICH ist diejenige Instanz, welche die Wert- und
Normvorstellungen, die moralischen Prinzipien umfasst und das
Verhalten und Handeln des ICH im Sinne der geltenden Moral reguliert.
Das ÜBER-ICH vertritt das Moralitätsprinzip; es bewertet die
Triebwünsche, ob sie zugelassen werden oder nicht.
So hat Thomas möglicherweise die elterliche Normverinnerlicht, dass man einem
anderen Kind kein Spielzeug wegnimmt. Bei Zuwiderhandeln droht das ÜBER-ICH mit
Strafe; Thomas bekommt Gewissensbisse.
Die Dynamik der Persönlichkeit
Diese drei Instanzen, ES, ICH und ÜBER-ICH, stehen miteinander in einer
ständigen Wechselbeziehung, agieren mit- und gegeneinander. Jede dieser drei
Instanzen hat bestimmte Funktionen zu erfüllen:
Das ES kündigt bestimmte Wünsche oder Bedürfnisse an, die vom ÜBER-ICH bewertet
werden. Das ICH versucht, zwischen ÜBER-ICH und ES zu vermitteln, und überprüft
die Realität bezüglich der Frage, ob Befriedigung möglich ist oder nicht. Je
nach den Wertund Normvorstellungen, die im ÜBER-ICH vorhanden sind, je nach der
Stärke der Gefühle, die es entwickelt (Gewissensbisse, Schuldgefühle),
entscheidet sich, ob das ICH die Wünsche des ES zulassen kann oder nicht.
Zugelassene Ansprüche werden vom ICH gesteuert und, wenn es die Realität
ermöglicht, verwirklicht; nicht zugelassene Wünsche oder Bedürfnisse müssen vom
ICH abgewehrt, unbewusst gemacht, verdrängt werden.
ÜBER-ICH
(Moralitätsprinzip)
- bewertet die Wünsche des ES
- gibt Anweisung, ob diese Zugelassen werden oder nicht
ll
\/
ICH ---------------> Realität
(Realitätsprinzip) <--------------- Beschaffenheit und Förderungen
- vermittelt zwischen ÜBER-ICH und ES der Außenwelt
- überprüft die Realität
- verwirklicht zugelassene Wünsche
- wehr nicht zugelassene Ansprüche ab
/\
ll
ES
(Lustprinzip)
- Kündigt bestimmte Wünsche und Bedürfnisse an
Thomas sieht bei seinem Freund Andreas ein neues und interessantes Spielzeug.
ES:
Meldet den Wunsch an, das Spielzeug von Andreas sofort zu besitzen.
ÜBER-ICH: Bewertet den Wunsch entsprechend der
verinnerlichten Norm:
„Einem anderen Kind darf man dessen Spielzeug nicht wegnehmen!"
ICH:
Überprüft die Realität: Die Mutter von Andreas ist zum Einkaufen gegangen:
andere Erwachsene sind nicht in der Nähe:
er ist bestimmt genauso
stark wie Andreas: jetzt wäre eine gute Gelegenheit, Andreas das Spielzeug
wegzunehmen.
Vermittelt zwischen den ES-Ansprüchen und den Einschränkungen des ÜBER-ICH:
Je nach der Stärke der Gefühle, die das ÜBER-ICH erzeugt (Gewissensbisse,
Schuldgefühle),
wird der Wunsch von
Thomas zugelassen oder abgewehrt.
Das Wechselspiel zwischen
den Wünschen des ES, den moralischen Bewertungen des ÜBER-ICH, den Anforderungen
der Realität und den Vermittlungs- und Anpassungsleistungen des ICH bewirkt die
Dynamik der Persönlichkeit.
PERSÖNLICHKEIT
I ICH-STARK
|
ICH-SCHWACH |
Das ICH ist stark genug, um die Wünsche des ES, die Gebote und Verbote des ÜBER-ICH und die Anforderungen der Realität aufeinander abzustimmen. Das ich ist fähig, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu realisieren; es kann sie aber auch in freier Entscheidung zurückstellen und aufeinanderschieben
|
Das ICH wird beherrscht entweder von den Triebwünschen des ES oder der verinnerlichten Werten und Normen des ÜBER-ICH oder den Anforderungen der sozialen Realität. Herrscht das ES vor, dann werden die Triebwünsche exzessiv befriedigt. Die eigenen Bedürfnisse werden dagegen unterdrückt und verdrängt, wenn das ÜBER-ICH oder die Realität vorherrscht |
Die Person ist selbstbestimmt in ihrem Verhalten
|
Die Person ist fremdbestimmt in ihrem Verhalten |
Das ICH steht eindeutig im Mittelpunkt des Freudschen Persönlichkeitsmodells und ist die Vermittlungsinstanz zwischen dem ES, dem ÜBER-ICH und den realen Anforderungen der Außenwelt. So hat das ÜBER-ICH die Funktion, die aus dem ES stammenden ungezügelten Triebe zu bewerten und zu kontrollieren. Konflikte zwischen ES und ÜBER-ICH sind daher unvermeidlich. Aufgabe des ICH ist es nun, den Konflikt derart zu lösen, dass ein Gleichgewicht zwischen beiden Kräften hergestellt wird.
Gelingt es dem ICH nicht, zwischen den oftmals konkurrierenden Ansprüchen des ES, des ÜBER-ICH und der Realität zu vermitteln, dann treten Ängste auf.