Lebenslange Entwicklung

 

Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens, ständig und unvermeidlich, immer wieder neue Erfahrungen. Der sich dabei anhäufende „Erfahrungsschatz" gibt der Persönlichkeitsstruktur charakteristische Züge und beeinflusst die Bewertung aktueller Geschehnisse ebenso wie die Entwicklung neuer Lebensperspektiven (Erwartungshaltung für die Zukunft). Zwei Menschen können dasselbe Erlebnis haben, ihm aber grundverschiedene Bedeutung beimessen. Die subjektive Wahrnehmung und Interpretation, nicht objektive Merkmale, machen ein Ereignis „schlimm" oder „gut".

 

Die den Lebenslauf begleitenden Erfahrungen sind wie folgt gliederbar:

 

Lebensaltersabhängige Erfahrungen

Schuleintritt, Pubertät, körperliche Alternsprozesse, Konfrontation mit gesellschaftlicher Wirklichkeit des Alterns (Vorurteile, negatives Fremdbild), Klimakterium, Ausscheiden aus dem Arbeitsleben usw.

 

Zeitaltersabhängige Erfahrungen

Historische Ereignisse wie Krieg und Weltwirtschaftskrise; die aktuelle gesellschaftliche Situation wie Kapitalismus oder Sozialismus, Diktatur oder Demokratie; kontinuierliche Veränderungen wie Werteverschiebungen usw.

 

Nicht-normative Erfahrungen

Wichtige Lebensereignisse, die weder lebens- noch zeitaltersabhängig noch universell sind wie z.B. schwere Krankheiten.

 

Kritische Lebensereignisse

 

Havighurst hat alterstypische Entwicklungsaufgaben beschrieben, die für die Mehrheit gelten. Sie sind insofern normativ. Kritische Lebensereignisse wie Geburt eines Geschwisters, Scheidung der Eltern, Orts- und Schulwechsel, Arbeitslosigkeit, schwerwiegende Erkrankungen oder Behinderungen, Viktimisierungen durch Verbrechen, Verlust nahestehender Personen durch Tod, ökonomische Verluste usw. sind demgegenüber nicht-normative Einschnitte in den Lebenslauf, die Neuorientierungen und die Bewältigung von Verlusten und neuen Anforderungen verlangen. Solche Ereignisse können Veränderungen sozialer Rollen, persönlicher Ziele und Wertungsprioritäten sowie Aufbau neuer Fähigkeiten, neuen Wissens, neuer Haltungen und neuer Sozialbeziehungen erfordern.

 

Interpretationen und Bewertungen

 

Entscheidend sind nicht die Ereignisse und ihre objektiven Folgen, sondern die subjektiven Bewertungen. Die Geburt eines Kindes kann z.B. für die einen eine große Belastung sein, die mit der Berufskarriere nicht zu vereinbaren ist, für andere ein langersehntes Glück. Der Tod eines Ehegatten ist für die einen ein unersetzlicher Verlust, für andere eine Befreiung. Die Veränderungen im Leben, die durch Ereignisse und ihre Folgen bedingt sind, können Trauer, Hilflosigkeit, Empörung, Hoffnung oder Zuversicht auslösen. Negative Effekte sind wahrscheinlicher bei negativ bewerteten Veränderungen.

 

Die Bewertungen sind zum Teil auch davon abhängig, wie viele andere von ähnlichen Ereignissen, Belastungen oder Verlusten betroffen sind. Wenn viele durch ein Ereignis ähnlich betroffen sind, wie etwa durch eine große wirtschaftliche Rezession, durch einen Krieg, durch Natur- oder technische Katastrophen, ist die psychologische und soziale Erfahrung eine andere, als wenn einzelne Individuen betroffen sind. Verluste, von denen viele in ähnlicher Weise betroffen sind, werden mutmaßlich als weniger ungerecht bewertet, die Gesellschaft ist eher geneigt, mit Unterstützung zu reagieren. Die Wahrscheinlichkeit, daß den Opfern Selbstverschuldung vorgeworfen wird, ist geringer.

Aus denselben Gründen ist es nicht belanglos, in welcher Altersperiode ein Ereignis eintritt. Aus den gleichen Gründen macht es einen Unterschied, ob Ereignisse oder Übergänge in einer Altersspanne eintreten, in der dies häufig vorkommt oder in einer Altersspanne, in der dies selten vorkommt. Eine altersgemäße Schwangerschaft, ein altersgemäßes Ausscheiden aus dem Beruf, altersgemäße Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit bergen ein geringeres Risiko als dieselben Ereignisse, wenn sie vorzeitig sind.

Bei der Verarbeitung der Ereignisse spielen insbesondere drei Konstruktionen eine große Rolle: die Erklärung der Ursachen, die Ansichten über Verantwortlichkeit für ihr Eintreten und die Suche nach einem Sinn in diesen Ereignissen. Zum Beispiel ist es bei einer ernsthaften Verletzung von Bedeutung, wer verantwortlich gemacht wird: das Schicksal, eine andere Person, oder ob sich das Subjekt selbst die Verantwortlichkeit zuschreibt. Erleben die Betroffenen Schuld oder Ärger über sich selbst oder erleben sie Empörung über andere, stellen diese Gefühle zusätzliche Belastungen dar, mit denen man sich auseinandersetzen muß.

Bewertungen und Interpretationen sind interindividuell unterschiedlich. Für einige ist es leichter, eine emotionale Balance zu finden, wenn sie die Ereignisse als Schicksal oder Pech interpretieren, während andere, die das Bedürfnis haben, ihr Schicksal selbst zu kontrollieren, durch eine solche Interpretation sehr verunsichert würden, denn Zufall ist sinnlos, und sie vermeiden die Erkenntnis, sinnlos Opfer geworden zu sein. Deshalb suchen sie nach Sinn in diesem Ereignis, nach Erklärungen und Verantwortlichkeiten.

Manche finden Sinn, indem sie positive Konsequenzen in den Blick nehmen, wie die Erfahrung, daß sie die schwierigen Probleme zu meistern in der Lage sind, daß sie Unterstützung und Solidarität bei anderen finden, daß das Ereignis sie veranlaßt hat, die Prioritäten der Wertorientierungen neu festzulegen.

 

Risiko- und Schutzfaktoren

 

Die Forschung zur Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen ist auch der Frage nachgegangen, ob es über die -verschiedenen Bewältigungsstrategien und Interpretationstendenzen hinaus Risiko- und Schutzfaktoren gibt. Auf einem psychologischen Niveau wurden Eigenschaften wie Stresserfahrung, erfahrungsbedingtes Selbstvertrauen in die Bewältigung kritischer Situationen, Selbstwirksamkeit, internale Kontrollüberzeugungen und ein breites Repertoire von Problemlösungsstrategien identifiziert. Auf einem sozialen Niveau gibt es eine sehr umfangreiche Forschung über soziale Unterstützung als protektivem Faktor und negative soziale Reaktionen gegenüber den Opfern kritischer Lebensereignisse als Risikofaktor.

 

 

KRITISCHE und SENSIBLE PHASEN